Im herbstlichen Licht der Sonne, die viel mehr noch als zu anderen Zeiten eines Jahres Farben und Kontraste verstärkt, das Helle noch heller und das Dunkle noch dunkler macht, so als wollte sie mir zeigen, wie unglaublich schön und zugleich wie verletzlich die Welt doch ist, im Licht solcher Sonne verweile ich spontan an manchen Orten, während die Seele pendelt zwischen Weltschmerz und Dankbarkeit für das Schöne, das mir gnadenhaft geschenkt wird in kostbar seltenen Momenten, ohne dass die Seele zur Ruhe käme im pendelnden Sein. Dann sitze ich am Ufer des grünen Flusses, der mir Begleiter ist, während warmer Herbstwind Augen trocknet, oder steige vom Rad, um im Augenblick zu verweilen.
Auf einem kaum befahrenen Sträßchen zwischen zwei spärlich bewohnten Ortschaften – fast im Nichts einer ruhelos lärmenden Welt – mache ich Seelenrast vor einer Garagentür eines wohl kaum benützten Schuppens und lehne das Rennrad an einen Baum mit rotgelben Blättern. Zwischen Sonne und Schatten haftet ein blaues Spruchplakat am Holz, an dem Dutzende Klammern mit winzigen Papierrestchen noch Zeugen sind von irgendwelchen anderen Plakaten und Ankündigungen, die einst hier angeheftet waren. Silbrige Drahtreste stehen aus dem verwitterten Holz. Meist mag ich die glücksverheißenden Sprüche nicht, die obendrein noch mit Imperativen versehen sind. „IM RENNEN NACH GELD ZERRINNT DAS GLÜCK. STREICHE DAS ÜBERFLÜSSIGE!“ – so lautet die Botschaft. Müsste ich daraus einen Spruch kreieren, der für meine Lebenslage stimmte, so schriebe ich ihn im Augenblick des Daseins wohl so: „Das Wesentliche leben.“ Ganz ohne Rufzeichen. Ganz ohne die moralischen Untertöne. Leben als Angebot und als Gnade. Während ich über die Tür mit dem Spruchplakat und den verschwundenen anderen Plakaten und ihren Drahtklammerresten sinniere, bleibt mein Blick hängen an der Türschnalle, die sich hellglänzend abhebt vom Braun des Holzes im herbstlichen Licht der Sonne und denke an andere Türen, die geschlossen sind, weil sie weder von innen noch von außen geöffnet werden aus Angst vor Verletzungen, aus Resignation, aus vermeintlichem Mangel an Zeit, aus Unachtsamkeit oder weil Schlüssel dafür verloren gegangen sind. Soll ich anklopfen? Soll ich die Klinke in die Hand nehmen – oder einfach warten? Wartet jemand dahinter, der auf mich wartete, um zu trösten? Ist dahinter ein Sehnsuchtsort ungelebter Träume? Seelenversunken steige ich wieder auf das Rad und fahre weiter. Das Gedicht von Bertold Brecht „Der Radwechsel“ fällt mir ein, das mich so oft im Leben schon begleitet hat.
„Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?“
Klaus Heidegger, 20.10.2022