Wenn ich zu einer Sitzung in irgendeine Stadt fahre, nehme ich manchmal einen früheren Zug, um mich gedanken- und gefühlsversunken auf die Stimmungen und Schwingungen einer Stadt einzulassen, die meist wiederum harmonisch oder disharmonisch zu meinen eigenen Schwingungen sind und diese manchmal schier unerträglich verstärken. Diesmal ist es Salzburg am frühen Vormittag mit typisch melancholischem, düsterem Novemberwetter, in dem die Wolken drückend tief hängen. Als Ohrwurm ist mir noch Leonard Cohens „broken Hallelujah“ im Herzen, worüber ich abends zuvor im Kino einen tiefsinnigen Film sah.
Vom Bahnhof in Richtung Stadtzentrum hocken in regelmäßigen Abständen von 50 Metern auf beiden Seiten der Straße bettelnde Menschen. Ein Halleluja werden sie in der Kälte des Morgens nicht singen können, wohl eher die Zerbrochenheit des Daseins spüren, in dem es nicht gelten dürfte: „there is a crack in everything, that’s how the light gets in“. Beim Nebenblick auf die Bettler denke an die Heilige Elisabeth, deren Festtag gerade ist. Die ungarische Königstochter wusste, wie sie den Armen helfen konnte, und sie lässt mich heute an meine Hilflosigkeit im Umgang mit den Armen denken und an meine Dankbarkeit, dass es eine Caritas gibt, die weiß, wie professionelle Hilfe funktioniert. Würde ich jeden Becher mit einem Euro füllen, der sich gefühlt mir in den Weg stellt, wäre ich wohl bald 50 Euro los. Ein Dauerauftrag bei der Caritas ist wohl passender für mich, denke ich mir und ertappe mich dabei, dass meine unbeholfene Betroffenheit über die sichtbare Armut nicht weichen mag, sondern dort nur größer wird, wo sich in Rolex- und Designergeschäften die Luxusseite zur Schau stellt.
Ich nehme den Weg – Elisabeth-Tag ist heute – über die Elisabethstraße zum Mirabellgarten. Dort wachsen auf sonst schon kahlen Büschen einige rote Rosen. Sie erinnern mich nicht nur an das Rosenwunder der Heiligen aus dem Mittelalter, sondern auch an die Verwandlungswunder in persönlichen Lebensmomenten der Jetztzeit. Im weltberühmten barocken Schaugarten werden Pflanzen, Sträucher, Bäume und Rasen in geometrische Formen gepresst, müssen angepasst werden an das, was als schön empfunden wird. Dort sind schon zuhauf Touristen unterwegs, um sich fotografieren zu lassen oder um Selfies zu machen mit dem Garten und seinen Beeten und verstümmelten Bäumen und der mächtigen Festung Hohensalzburg im Hintergrund. Wie wohler ist mir in der wirklichen, wilden, unberührten Natur, in den Schluchten und Wäldern meiner Berge, zu denen ich mich hinsehne, während ich im Getriebe der Hochtourismus-Stadt nun ganz drinnen bin.
Oben am Mönchsberg, wo in meiner Salzburger Schulzeit das Cafe Winkler und das Casino waren, enträtsle ich den Schriftzug an der Fassade vom Museum Moderner Kunst, der mich philosophisch berührt, so als erzählte er von meinem Erleben „inside of & outside of itself“.
Das Brückengitter des Markartsteigs über die Salzach ist schwer von den Tausenden Liebesschlössern und ihren Liebesversprechungen und dem Sehnen von Menschen nach Beziehungen, die wie bleibend stabile Brücken sind über die oft reißenden Flüsse des Lebens. Ein paar Regentropfen fallen vom Himmel – oder war es eine Träne?
Solche Gedanken führen mich in die Bürgerspitalskirche St. Blasius am Nordende der Getreidegasse, direkt an der Mönchsbergwand. Mein Gebet begann längst vor dem Eingang in die Kirche als „broken Hallelujah“, das keine Kirchenräume braucht, sondern woanders mehr erfahrbar wird und in den Räumen der Kirche mir dann verstummt.
Im Mittelalter, 100 Jahre nach Elisabeth, war die Kirche verbunden mit einem Spital – ganz im Sinne der Elisabeth, die sich selbstlos um die Kranken kümmerte. Passend, dass diese Kirche mit dem gotischen Kreuzrippengewölbe dem Hl. Blasius geweiht ist, dem Fürsprecher und Schutzheiligen der Kranken. Da hat er viel zu tun, der Hl. Blasius, wenn er auch zuständig ist für die verletzten Seelen. Zum Glück gab es in der Kirche keine Weihnachtskugeln und irgendeine andere Weihnachtsdeko.
Mein Geist will flüchten vor den Mozarts, die aus Pappe an scheinbar jeder Straßenecke der Innenstadt stehen. Ich fühle mich bedroht von den Mozartkugeln, die in diesem Exzess fast schon zum … sind. Aber immerhin besser als der Pseudo-Tiroler-Speck, der in den Massentierhaltungen in Osteuropa seinen Ursprung hat.
Zurück zu Salzburg. Im Innenhof zur Universität Salzburg bleibt mein Blick hängen an einer monumentalen Skulptur. Sie stellt den Kopf eines jungen Mädchens dar, gestaltet aus weißem Marmor. Sie strahlt eine übernatürliche Ruhe und Erhabenheit aus, nach der ich mich sehne. Der Künstler hat den Kopf aus 20 Scheiben gleicher Höhen geformt. Unser Leben – gebildet aus Schichten, gebildet aus Geschichten, die sich dann doch zum Ganzen ergeben, wenn Leben in einer absurden Welt trotzdem gelingen kann.
Die Straßen der Innenstadt sind bis zum Exzess weihnachtlich dekoriert und die Fülle an glänzenden Kugeln in allen möglichen Größen und die grellen Glitzergirlanden sind beängstigend, so als würde darin der ursprünglich weihnachtliche Sinn mehrfach erstickt. Der ganz große Rummel ist dann beim Christkindlmarkt am Dom- und Residenzplatz. Er soll einer der schönsten Weihnachtsmärkte der Welt sein. Mir fehlt das Sensorium, ebensolches zu empfinden. Ich sehne mich auf einen Gipfel, in dem ich weniger einsam bin als in der Masse von Menschen, die sich zwischen den Standln quetschen.
Die Sitzung nun wird mir helfen, gemeinsam mit anderen Menschen von einer Welt zu träumen, die anders sein könnte, eine Welt wo Verarmten im Sinne der Heiligen Elisabeth strukturell geholfen wird, wo es genügend professionelle und menschliche Hilfe für die Kranken gibt, wo die Natur in ihrer Ursprünglichkeit geschützt wird und menschliches Sehnen zur Erfüllung kommen darf.
Klaus Heidegger, 19.11.2022