auf Schienen
der Körper ist auf Schienen
die Seele ist entgleist
der Zug weiß wohin
die Seele sucht ihr Ziel
der Körper ist auf Schienen
die Seele ruft nach Halt
klaus 22.11.22
Tag 1: Dienstag, 22. 11. 22
Von einer nicht leichten Entscheidung
Ich mag es, wenn ich mich klar entscheiden kann, wenn ein Ja nicht mit vielen Neins gequält wird, wenn die Sachverhalte klar sind und Gefühle und Werte zusammenklingen. (…) Soll ich nach Spanien fahren? Gestern war es so weit. Vormittags ging ich wieder zum Bahnhof. Die Flixbus-Variante hatte ich schon verworfen. Bei der einen Tür hinein, dann wieder hinaus. Ohne Interrail-Karte. So war es schon in der Woche zuvor. Wieder in der Wohnung, arbeitete es in meiner Gefühlswelt. Ein Freund ermutigte mich: „Klaus, fahr doch! Nimm dir die Zeit. Du hast sie. Dafür ist ein Sabbatical ja da, dass man unterwegs ist.“ Menschen, die mir nahe sind, formulierten es ähnlich die Tage zuvor, so als müssten sie einem lahmen Gaul Mut zusprechen. Aber letztlich gibt es nur einen wirklichen Grund, dass ich nun aufbreche. Andreas, mein Erasmus-Sohn. Für ihn würde ich wohl auch um die halbe Welt fahren. (…)
Wieder ging ich vor der Kaufentscheidung alles durch: Ich mag eigentlich keine großen Städte, keine Orte, wo die Hunderttausenden sind, ich mag die Natur und die Berge und ihre stillen Orte. Und jetzt kommt der Schnee und mit ihm die Spuren, die ich darin ziehen könnte. Und wie kann ich mein Reisen mit meinem Ziel, möglichst nachhaltig zu leben verknüpfen? Muss nicht wirklich alles getan werden, um selbst so zu leben, dass die bei der COP27 gescheiterten Klimaziele zumindest im eigenen
„Wenn du denkst, dass ein Abenteuer gefährlich ist, erwäge, dass die Routine tödlich ist …“, bekam ich von einer Frau als Gedankenimpuls von Paolo Coelho mit auf den Entscheidungsweg. Nicht ganz ungefährlich, denke ich mir.
Innsbruck – Zürich mit Railjet
Die Christkindlmarktaufbauten in der Marien-Theresien-Straße wirken im düsteren Morgen wie Ruinen einer Geisterstadt. Das Licht von Sternen leuchtet auf den regennassen Platz vor dem Landhaus. Ich wollte, ich könnte einen Stern aufheben, der mich wärmte und mir Zuversicht schenkte. Kein Mensch hält mich momentan in dieser Stadt fest. Keine Arbeit, die Sinn gibt, wartet auf mich, denke ich mir, als ich die hunderten Schülerinnen und Schüler sehe, die in ihre Schulen unterwegs sind. Ich vermisse meine Arbeit in der Schule. Um 7:46 Uhr ist die Abfahrt des Railjet nach Zürich. Immer, wenn ich mit dem Zug unterwegs bin, steige ich ganz vorne ein, wenn es in den Westen geht, oder ganz hinten, wenn es in den Osten geht. Da finde ich meist einen Platz, um ungestört zu „arbeiten“, was für mich vor allem bedeutet: zu schreiben. Wer mich suchte, würde mich also hier finden. Mich suchen? Ich habe fast den ganzen Wagon für mich. Fast unbegrenzt kann ich mit dem Inter-Rail-Ticket nun in Europa mit den Zügen herumfahren. Die Grenzen werden mir gesetzt durch die Schienen. Welche Züge ich darauf nehmen kann, wird sich noch zeigen, weil ich noch ohne Reservierungen für die Superzüge bin. Das konnten sie mir im Innsbrucker Bahnhof nicht machen.
Ich habe leichtes Halsweh, das mich an meine Angst vor einer Covid-Infektion erinnert, die zu meinen Argumenten zählte, nicht loszufahren. Die Pandemie ist nicht vorbei und angesichts dessen sind Menschenansammlungen und enges Aufeinanderhocken in Zügen nicht das, was gesundheitsmäßig sinnvoll ist.
Bei der Fahrt bis Feldkirch denke ich immer wieder an bestimmte Orte und an Stopps. Dreimal fuhr ich allein letzten Sommer diese Strecke mit dem Rennrad. Die Weiterfahrt von der österreichisch-schweizerischen Grenze bis Zürich zählt wohl zu einer der besonderen Panoramfahrten. Links und rechts sind Felswände, die bis in Talnähe und in die spätherbstlich-bunten Laubwälder hinein mit etwas frischem Schnee überzogen sind. Kühe grasen auf den grünen Feldern. Und dann beginnen die beiden langgestreckten Seen. Am Zürcher See fuhr ich zuletzt auf der Rennradfahrt nach Paris mit Eli entlang. Da war ich nicht allein. Da war jeder Meter Länge und jeder Höhenmeter spürbar. Es war ein heißer Sonntag mittags, als wir in Zürich ankamen, so heiß, dass Menschen in der Limmat Abkühlung suchten. Wir fuhren zum Bahnhof für dringende „Geschäfte“, deckten uns mit Wasser ein und radelten dann gleich nach Basel weiter.
Raumerfahrungen
mehr als Räume
die von gestern erzählen
im Gestern
finde ich ein Heute und mich selbst
mehr als Geschichten
die von gestern erzählen
in Geschichten von gestern
finde ich wieder die Welt von heute und mich selbst
Zürich, 22. 11. 2022
In Zürich auf den Spuren von Zwingli
Halb zwölf. Die TGV-Zuschläge habe ich im Bahnhof schneller als erwartet bekommen. Nicht erwartet hatte ich aber, dass ich eine Nacht in Avignon verbringen muss. Nun aber Zürich.
Ganz anders als Mitte Juli ist das Wetter. Kühl-nass. Langsam spaziere ich der Limmat entlang ins Zentrum der Altstadt. Zum Reisen an solch touristische Orte ist jetzt wohl die beste Zeit, weil nur wenig Sehenswürdigkeitensammelnde unterwegs sind. Der Doppelturm vom Großmünster und die anderen zwei grünen, spitzen Türme vom Frauenmünster und St. Peter weisen den Weg. Ich denke an Zwingli und die deutsch-schweizerische Reformation. „Eine evangelische Kirche ist genug …“, dieses Papstzitat fällt mir gerade ein. Papst Franziskus sagte es kürzlich beim Ad-Limina-Besuch an die deutschen Bischöfe, die mit Reformbemühungen im Rahmen des synodalen Prozesses beschäftigt sind. So sehr ich Franziskus mit seinen politischen Äußerungen und vor allem seinem einfachen Lebensstil schätze, so sehr bin ich dann auch wieder enttäuscht, wenn mit Blick auf notwendige strukturelle Reformen in meiner Kirche nichts weitergeht. Da war Huldrych Zwingli in manchen Aspekten vor 500 Jahren viel weiter.
Großmünster
Mein erstes Ziel ist das das Großmünster. Ich denke an Huldrych Zwingli und die Reformation in der Schweiz, die hier seinen Höhepunkt hatte und eine ganz besondere Prägung erfuhr. Die Wurzeln dieser Kirche liegen – so die Legende – aber bei den beiden Stadtpatronen Felix und Regula, deren Gräber sich hier befinden sollen. Ich verknüpfe diese Orte mit meinem Glauben heute und dem, was meiner Kirche und der Welt so nottäte. Nottun – ein schöner, ein passender Begriff
Die Kirche ist aufgeladen mit den wichtigsten Daten der europäischen Kirchengeschichte. Der Legende nach soll Karl der Große an der heutigen Stelle des Großmünsters die Gräber der Stadtheiligen Felix und Regula gefunden haben, worauf er hier eine erste Kirche als Chorherrenstift errichten ließ. Schwertbewaffnet steht eine spröde gewordene Statue von ihm in der Krypta. Abgestellt. Karl der Große, der sich auf sein Schwert stützt, wie abgestellt. Die eigenartigen großen Doppeltürme des Großmünster – manche nennen die Spitzen auch liebevoll Zitronenpressen – sind das markanteste Wahrzeichen von Zürich. Ich stelle den Rucksack neben mich auf eine Kirchenbank – Kniebänke gibt es da ja seit Zwingli nicht mehr – und lasse den romanischen Raum auf mich wirken. Im Zentrum stehen die Kanzel und der große Taufstein, der zugleich als Abendmahlstisch dient. Die „modernen Glasfenster sind ganz besonders, weil sie sich einer eindeutigen Deutung entziehen und vor allem ein Spiel mit Licht und Farben sind“, lese ich in einer Beschreibung. Auf zwei Pfeilerkapitellen sind noch Skulpturen aus der alten Kirche erhalten geblieben. Auf einem wird Karl dargestellt, dess Pferd in die Knie geht, als er der Legende nach zu den Gräbern der Stadtheiligen Felix und Regula kommt. Der kriegerische Karl kniet nieder. Ein wohl ähnlich pazifistisches Motiv greift gegenüber eine andere Skulptur auf. Ein bärtiger Mann packt einenanderen, der gerade sein Schwert zückt, um sich zu verteidigen.
Das Frauenmünster und Chagall
Am längsten verweile ich im Frauenmünster, einer der ältesten und wohl schönsten Kirchen Zürichs mit den weltberühmten Glasfenstern von Marc Chagall. Es sind kaum Menschen da. Eine Zeitlang bin ich sogar alleine im gotischen Chorraum mit den fünf hohen Glasfenstern von Chagall, ein beeindruckendes, berauschendes Fest von Licht und Farben, in denen der damals bereits 80-Jährige Chagall die Bibel neu entstehen ließ. „Ich las die Bibel nicht, ich erträumte sie …“, ist eines der Zitate, das ich mir von Chagall merkte. Auch ich erträume mir die Szenen, die Chagall hier in Farbe und Licht so wunderbar wiedergibt. Ich erträume mir das feurige Rot für diese Welt, das Prophetinnen und Propheten aufsteigen lässt, damit unsere Welt gerettet wird. Das wäre wohl ein symbolisch passender Ort für eine Klebe-Kunst-Aktion der „Letzten Generation“. Im Blau des Jakobsfensters erträume auch ich mir, dass eine Leiter vom Himmel zu mir kommt, dass ein Engel mit mir ringt und mir eine Zusage gibt und dass Versöhnungen geschehen können. In einer kleinen, tiefblauen Rosette stellte Chagall die Schöpfung dar. Es ist, als wäre es eine tiefblaue Uhr, die sich im Kreis dreht. Die Mitte dieser Uhr stellt die Arche Noah dar. Diese Welt wurde einmal gerettet – wird sie es wieder?
Im Frauenmünster wird die Reformation unter Zwingli lebendig. Auch hier konnte Zwingli predigen. Die Reformation hat die Kirche verändert. Die Bilder sind verschwunden. Die Altäre sind verschwunden. Nicht einmal ein Kreuz lässt sich finden. Dafür ist die Kanzel ganz besonders. Sie ist das Zentrum. Sie ist sehr groß und auf Steinstützen gestellt. In der Mitte steht auch der große Taufstein. Reformatorische Kirchenarchitektur, wie ich sie auch im Großmünster davor sah.
Die Geschichte des Frauenmünsters zeigt vor der Reformation – es geht bis auf das Jahr 800 zurück, welche große und auch mächtige Stellen die Äbtissinnen im Laufe der Kirchengeschichte hatten. Sie sollen selbst wie Fürstinnen die Stadt Zürich geleitet haben. „KARLA* DIE GROSSE“, nannte sich ein Kaffee in der Altstadt, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln.
im Laufe der Kirchengeschichte hatten. Sie sollen selbst wie Fürstinnen die Stadt Zürich geleitet haben.
Reformationskirche St. Peter
Abschließend ist noch Zeit für die dritte der Altstadtkirchen, die die Silhouette von Zürich prägen und reformatorische Geschichte analog erspüren lassen. Das Innere der Reformationskirche ist wie ein Musterbeispiel reformatorischer Kirchenarchitektur. Sie gleicht weniger einer Kirche und mehr einem Saal, in dem sich alles auf die Kanzel in der Mitte und das Taufbecken davor konzentriert. Vor der Kirche ist eine moderne Zwingli-Statue. Sie stellt den Reformator dar, der in seiner Hand eine Kugel voller Zivilisationsmüll hält. „Klima-Zwingli“ wird er genannt. Heute würde Zwingli in den Kirchen wohl auch von der Klimakatastrophe predigen und von Wegen, wie die Menschheit gerettet werden könnte.
Von Zürich nach Mulhouse
Vor der Abfahrt stellte ich mich noch unter die große Engelskulptur von Niki de Saint Phalle. Sie stellt Raffael dar – oder wohl besser Rafaele – die göttliche Begleitkraft, stark, bunt, kräftig, voll Sexualität und Vitalität. 15:23 Uhr. Sie bleibt Skulptur heute – so als wäre sie nicht mehr Teil meiner Geschichte.
Die TGV-Reservierungen im Bahnhof in Zürich machten noch dreimal 20 Euro. Das ist viel – relativ zum Gesamtpreis vom Inter-Rail-Ticket. Aber das Geld bekümmert mich nicht. Außerdem bin ich froh, dass das mit den Reservierungen überhaupt funktioniert hat. Kein Wunder, dass Flixbus so viel Erfolg hat, wenn das Bahnfahren so kompliziert geworden ist. Ich muss jetzt noch schauen, wo und wie ich in Avignon die ungeplante Nacht verbringen werde. Im Bahnhof in Zürich mache ich eine Bookingcom-Reservierung bei einem Espresso, der hier im Bahnhofslokal 5 Franken kostet. Allerdings ist dort nur bis 21.00 Uhr Eincheckmöglichkeit. Also wieder eine Unsicherheit. (…)
Von Mulhouse nach Avignon
17.00 Uhr. Nun nochmals vier Stunden mit dem TGV bis Avignon. Den hässlichen Bahnhof von Mulhouse kenne ich von den vielen Fahrten, die ich mit Schülerinnen und Schülern nach Taizé machte. Hier sind wir meistens umgestiegen und haben auf Anschlusszüge gewartet. Ja, viel Zeit habe ich mit solchen Fahrten und Exkursionen verbracht. Und wieder spüre ich meine Einsamkeit. Jetzt ist der TGV voll. Es ist eng. Hochgeschwindigkeitszug, Aushängeschild von französischer Industrienation, aber das Wasser in der Toilette funktioniert nicht. Man hockt fast aufeinander. Ich habe die Maske auf. Einige andere auch. Ein wenig Halsweh bleibt. Im Hotel rief ich an. Ich soll den Namen „Klaus“ irgendwo eingeben, dann würde ich auch nach Rezeptionsschluss hineinkommen. Ob das funktioniert? Werde ich diesen Ort überhaupt so einfach finden? Ich denke an Menschen, die ich gerne mag, (…)
Ich bin froh um mein Notebook. So kann ich schreibend und lesend die Zeit nützen. Gegend anschauen geht um diese Jahreszeit nicht, in der es schon um 17.00 Uhr dunkel ist. Das Wissen, dass ich mit Atomstrom unterwegs ist, lässt etwas an schlechtem Gefühl bei mir aufkommen. Der Zug fährt mit 300 km/h. Es ist, als flöge er über die Landschaft.
Eine Nacht in Avignon
Der TGV-Bahnhof liegt außerhalb jener Stadt mit dem Namen, der nach so viel Geschichte klingt. Ohne Booking.com hätte ich keine Buchung. Ohne Navigation wäre ich an diesem Ort verloren. Es ist gut einen Kilometer vom Bahnhof bis zum Hotel, berechnet mir Google-Maps. Ein Kilometer im menschenleeren Dunkel kann sehr weit sein. Große Parkplätze, spärlich beleuchtet, eine Riesentankstelle im Nirgendwo, irgendwelche Industriegebäude – und vor allem viele Straßen ohne Menschen. Ich könnte niemanden nach einer Richtung fragen. Die Sprachnavigation leitet mich hin. Die Gegend ist „spooky“ – würde man es in der Jugendsprache formulieren. Es wäre wohl nichts für eine Frau. Und dann stehe ich in der Rezeption vor einem Automaten, den ich zunächst gar nicht gefunden hatte. Mehrmals versuche ich, bei diesem Gerät erfolgreich zu sein. Mit HEIDEGGER erkennt die Maschine meine Buchung. Dann will sie aber noch einen Frühstücksbeitrag und die Kreditkarte. Wieder probiere ich herum. Endlich Erfolg. Eine magnetische Karte für Nummer 2 wird ausgespuckt. Mir genügt es, ein Bett zu haben, mich auf’s Bett zu legen, Tag 1: gelebt, erlebt, überlebt!