Tag 2: Mittwoch, 23. November 2022
Avignon-Barcelona
ein reisendes Ich
videoüberwacht
durch Schleusen geschleust
mit QR-Codes gescannt
von GPS-Sensoren gesteuert
mit Maschinen kommunizierend
digitalisiert in analoger Welt
seelentief
den Träumen auf der Spur
mit unsichtbaren Tränen
von Menschheitsträumen geleitet
dankbar für menschliche Wesen
begleitet von himmlischen Wesen
k.h. 23.11.2022
Das Avignon der Moderne
Früh bin ich aufgewacht. 4.00 Uhr morgens. Es ist kalt im Zimmerchen – oder besser in dieser Art Containerschachtel. Die Elektro-Heizung wollte ich nicht einschalten, weil sie zusätzlich zu irgendeinem anderen Dauerton zu laut gewesen wäre. (…)
Manche Whatsapps sind die kleinen Leitern vom Himmel, weit weniger groß als die Jakobsleiter, die so schön strahlte gestern in Chagalls Fenster im Frauenmünster von Zürich. Es sind die wirklichen Engel, weit weniger stark und kräftig, als Niki de Saint Phalle’s Engel im Zürcher Bahnhof, und doch viel wirksamer in ihrer Sanftheit und Klarheit.
Das Frühstück im Nebenancontainer gibt etwas Wärme. Jetzt sitzt dort, wo ich mich spätabends mit der Maschinenrezeption auseinandersetzte, eine junge Frau. In der Ödnis dieser Welt wäre ich gestern abends schon fast verzweifelt, als ich vor verschlossener Tür stand. Es tut gut, dass da heute ein Mensch ist, die freundlich fragt: „Avez-vous bien dormi?“ Ich wollte nicht unhöflich sein und sagte mit meinem spärlichen Französisch: „Merci, le petit déjeuner est très bon.“ Dann geht es hinaus ins Straßengewirr, vorbei an Tankstellen und entlang verschmutzter Straßenränder. Angekommen in der Moderne. Ich denke an die Statue vom „Klima-Zwingli“, die auf meinem gestrigen Weg durch Zürich stand. Man sollte ihn hier aufstellen, wo Zivilisationsmüll angespült wird und die Schönheit der Welt der Automobilität zum Opfer gefallen ist. Die alten Mauern, Paläste und mittelalterlichen Häuser der geschichtsträchtigen Stadt an der Rhone sind weniger als drei Kilometer entfernt. Vielleicht komme ich ein andermal wieder hierher. Als Student war ich in meiner Autostopphase über Genua einmal bis Avignon gekommen. Für mich geht es jetzt weiter mit dem TGV nach Barcelona. Es sind andere Mauern – moderne Mauern – andere Architektur – moderne Architektur – die nun mein Da- und Hiersein bestimmen. Gerne würde ich mein Rennrad haben, um durch die Provence zu fahren, in kleinen Städtchen in einer Kirche hocken, mir in einer Patisserie ein duftendes Baguette kaufen und einen Espresso in einem Café trinken, wo noch Menschen und nicht Maschinen tätig sind. Es würde mir auch nichts ausmachen, wenn Regen auf mich fiele. Hauptsache: Ich könnte die Landschaften und mich dabei spüren. Ich bin halt Radfahrer aus Leidenschaft, weil ich dabei das Gefühl habe, der Natur am wenigsten Schaden anzutun und mich am meisten spüre.
Die TGV-Station ist das moderne Frankreich, in die ich als postmoderner Zeitgenosse nicht so richtig hineinpassen will. Man – ja „man“! und ich bin Teil von diesem „Man“ – passiert Sicherheitsschleusen, um hineinzupassen und sich dann in einen Hochgeschwindigkeitszug zu quetschen, wo weniger Platz als in einem Flugzeug ist. Aber zumindest bleibt der Zug am Boden und hat einen unvergleichlich kleineren ökologischen Fußabdruck also Auto oder gar Flugzeug und gibt meinen Gedanken auch die Möglichkeit, am Boden zu bleiben, so deprimierend der Boden immer wieder auch ist. All dies ist wie eine Bestätigung der philosophischen Gedanken von Albert Camus – und in seinem Sinn gilt es, in der Absurdität dieser Welt nicht zu verzweifeln.
Mit Hochgeschwindigkeit nach Barcelona
Städtenamen, die angesagt werden, sind wie Kapitel aus einem Geschichtsbuch. Nimes – da war im 4. Jahrhundert eine wichtige Synode, da lebten um 800 die Sarazenen und wurden dann von Karl Martell brutal vertrieben, da waren die Hugenotten und Katholiken führten Kriege gegen sie, da waren die deutschen Besatzungssoldaten während des Zweiten Weltkriegs … Auch Montpellier könnte ähnliche Geschichten erzählen: von „katholischen“ (!?) Königen, die Kriege gegen Mauren und Hugenotten führten und mitbeteiligt waren, als Juden aus diesen Städten vertrieben wurden. Béziers – vorbeisausend sehe ich die mächtige Cathédrale Saint-Nazaire. Aus der Kirchengeschichte bekannt ist der Albigenserkreuzzug aus dem Jahr 1209: Damals war Bezier eine Albigenserhochburg. Auf Befehl von Äbten und päpstlichen Legaten wurden Tausende hingemetzelt oder verbrannten schutzsuchend in Kirchen. Im 16. Jahrhundert kam es erneut zu sogenannten „Religionskriegen“. Unter Richelieu wurden die Hugenotten brutal vertrieben. Der Blick in die Geschichte der Christenheit sollte uns mahnen: Nie wieder darf es eine religiöse Legitimation für kriegerische Gewalt geben. Der TGV saust über einen der Kanäle von Narbonne. Schwere Wolken liegen fast auf der Landschaft – ein wenig kann die Sonne durchkommen. Oft ist auch das Wetter wie eine Metapher für das eigene Leben.
Rosarote Flamingos stehen einbeinig in weiten Lagunenlandschaften, in denen sich der graue Himmel spiegelt. Möwen fliegen darüber. Auf Bergrücken im Hinterland drehen sich Hunderte Windräder. Ein kalorisches Kraftwerk an einer der Lagunen stößt Rauch aus. Zum Glück habe ich einen Fensterplatz und kann die vorbeiziehenden Landschaften auf mich wirken lassen. Sie sind eindrucksvoll. Die Novembersonne zaubert eindrucksvolle Konturen hinein. Die Weinreben haben braune Blätter. Äste der Mittelmeergewächse strecken sich dem Himmel entgegen. Sonnenparkanlagen. Ich denke an die europäische Energiediskussion. Frankreich geht einen eigenen Weg. Zentralisiert. Der Staat kann über die Preisgestaltung bestimmen und setzt die großen Infrastrukturprojekte um. Auf Atomkraft setzend. 70 Prozent der elektrischen Energie kommt aus Atomkraft. Neue Meiler werden gebaut. Perpignan. Eine katalanische Stadt. Im Zug ist wieder Bewegung von Ein- und Aussteigenden. Nun sind es nur mehr 30 Kilometer bis zur spanischen Grenze. Ein Zug mit „LKW-Walter“-Containern steht am Nebengleis. Gemüse aus Spanien für die europäischen Supermärkte. Im Zug wird auf die Maskenpflicht hingewiesen – doch kaum jemand hält sich daran. Ich habe sie auf – gibt mir etwas mehr Sicherheit in meiner Covid-Unsicherheit. Zuletzt war ich mit Jakob auf der Rennradfahrt am Camino entlang in Spanien. Es war ein Höhepunkt in meinem Leben. Oft werde ich in den nächsten Tagen wohl daran denken – so wie jetzt, wo mich die Landschaft daran erinnert. Wir waren ein Super-Papa-Sohn-Team. Die spanische Hochgeschwindigkeitsstrecke ist kilometerweit schnurgerade auf Brücken und Traversen gebaut, als gäbe es für sie keine Hügel und andere landschaftlichen Hindernisse. Zäune mit Stacheldraht sind links rechts der Strecke. Manchmal auch hat sich die Bahnstrecke tief in Landschaft eingegraben. Dann wieder ein Tunnel. Nichts darf den Speed bremsen.
Barcelona auf den ersten Blick
Die Straßen sind breit, sehr breit, richtige Stadtautobahnen, und dennoch Grünstreifen vor den imposanten Häuserreihen. Es ist warm: So warm, dass man mit T-Shirt gehen kann. Es riecht nach Meer. Das Hostel entspricht meinen Bedürfnissen. Einfach, unkompliziert, im Kontakt mit Menschen, die im Schlafsaal und in den Gemeinschaftsräumen sind. Da fühle ich mich zwar immer noch allein, aber etwas weniger, als allein in einem Hotelzimmer. Nach dem Einchecken lasse ich mich einfach treiben und irgendwie stehe ich dann vor einem Museum. Ich habe Lust auf Kunst, die zu dieser Stadt passt. Picasso – der berühmteste Maler Barcelonas. Ihm ist ein eigenes Museum gewidmet.
Im Museum von Picasso
Von den vielen Bildern, die ich sah, werden mir zwei in Erinnerung bleiben: Picasso malte in Paris eine Frau, die in einem Siechenheim lebte, weil sie an Syphilis litt. Picasso schenkte dieser schwerkranken, leidenden Frau die ganze Würde, die sie hatte. Picasso hatte einen Blick für jene, die am Rand der Gesellschaft waren. Das zweite Bild: Ein Mann und eine Frau, die sich umarmen, liebevoll, sich stärkend, sich Wärme schenkend. Im Dunkel trete ich aus dem Museum ins belebte Straßengewirr von Barcelona. Gerade noch – eigentlich ist nur mehr für Betende offen, der ich aber ja auch bin – kann ich in die große gotische Kathedrale. Sie wirkt jetzt mit dem beleuchteten hohen Rippengewölbe und den Säulen und so ganz ohne Touristen sehr beeindruckend. Aber mehr als all die Bilder und Statuen in der Kathedrale entdecke ich etwas anderes, das mich anspricht, das meiner Theologie entspricht und dem, was Glaube mir bedeutet: Maria als Graffiti in einer der engen Nebenstraßen, die Muttergottes ist angekommen inmitten der Menschen, vor allem der Kleinen und Gedemütigten, zu denen sie selbst zählte. Sie hält ihren Sohn liebevoll an sich – eben Madonna. Auf dem Tragetuch ihres Sohnes – oder ist es die Windel – ist das Supermanlogo.
Marienerscheinung in Barcelona
Maria
abends
in manchen Kirchen
in den Straßen Barcelonas
herausgenommen aus dem Trubel Hunderttausender
kleine Gruppen beten den Rosenkranz
strahlend weiß
mit Kitsch umrankt
in Dienstmagdposen
jeglichem sexuellen Anschein beraubt
mir ganz fremd
mitten unter Graffitis
in einer engen, dunklen Seitenstraße
bunt auf heruntergekommene Mauer gesprayt
ein Superman-Knabe an sich gedrückt
bist mir so nahe
Tag 3: Donnerstag, 24. November 2022
Ein Tag in Barcelona
Sagrada Familia
Wohl kaum ein Ort in Spanien ist inzwischen bekannter als dieses Meisterwerk von Gaudi und seinen Schülern. Meine Online-Buchung ermöglicht es, dass ich unter den ersten bin – ganz ohne Schlangestehen, die Einlass finden. Drei Stunden vergehen. Ich lasse keine Perspektive aus in diesem Spiel von Säulen und Fenstern, von Licht und Schatten, in diesem Bauwerk, in dem Glaube so sehr Gestalt werden konnte.
Kathedralenerlebnis
hinaufschauen
lichtdurchflutet die Sinne
bis mir schwindelig wird:
vom Licht berauscht
geerdet bleiben
Säulen wie Bäume auf Erden
bis ich fühle:
das Licht und die Erde
Glaube zu Stein geworden
Stein zu Glauben geworden
bis Wandlung wird Leben
bis Leben wird Wandlung
Natur wird zu Stein
Stein wird Natur
Geist wird Schöpfung
Gott* wird Mensch
Klaus.heidegger, 24.11.2022
(Sagrada Familia, Barcelona)
Katalanisches Nationalmuseum
Die kurze Zeit des Regengusses bin ich gerade in der U-Bahn und im Bus. Ich hätte für die Strecke zu Fuß zwar auch nicht länger gebraucht. Das ganz Besondere an diesem Museum auf einem Hügel über der Stadt sind die romanischen und gotischen Fresken. Im Inneren der riesigen Hallen wurden zahlreiche Fresken aus spanischen bzw. eben katalanischen Kapellen so übertragen, dass man das Gefühl hat, selbst in einer Kapelle zu stehen. Noch nie habe ich romanische und gotische Fresken in dieser Fülle auf einem Platz konzentriert gesehen. Beim Rundgang entdecke ich dann Gemälde, die mir teils so vertraut sind aus Abbildungen in Büchern. Manche von ihnen habe ich in vielen Präsentationen verwendet, um bestimmt theologische, philosophische oder historische Aspekte zu verdeutlichen. In den Bildern manifestiert sich Glaube und Historie. Ich bin so vertieft in die Gemälde, dass ich gar nicht merke, dass die Besuchszeit vorbei ist.
Niemand wartet auf mich. Niemand meldet andere Bedürfnisse an. So streife ich weiter durch die Stadt. Ab dem heutigen Abend sind die Weihnachtsbeleuchtungen an. Selbst auf den mehrspurigen Straßen im Inneren der Stadt ist ein Menschengedrängel. Ich kaufe mir in einem der vielen kleinen Lebensmittelgeschäfte etwas Gesundes, habe keine Lust, mich irgendwo alleine in eine Bar zu setzen. Tag 3 ist gelebt, ist überlebt.
Tag 4: Freitag, 25. November 2022
Barcelona-Madrid
Quartiere
sein Quartier
vor meinem Hostel
heute wie gestern und morgen
in der schmalen Nische eines Bürogebäudes
am Rande einer Prachtstraße
ein dünner Karton seine Matratze
hier schläft er
Uringeruch
ein Baum mit Zitronen zwischen Straße und Gehsteig
er wirft einen Schatten auf ihn
obdachlos
verloren
mein Quartier
ein sauberes Bett und gepflegte Dusche
heute wie gestern und morgen
in der unermesslichen Weite der Städte
in weihnachtlich geschmückten Prachtstraßen
ein ¡Bienvenido!
mit Kreditkarte gebucht
mit Googlemaps gefunden
mit Gedanken an all die Kunstwerke
ein Bier mit unfreiwilligem Blick auf die Fußball-WM
privilegiert
anders verloren
allein in fremdfremder Welt
klaus.heidegger, 25.11.2022
(Barcelona)
Highspeed nach Madrid
8:00 Uhr. Die Pandemie ist nicht vorbei. Im vollbesetzten Hochgeschwindigkeitszug von Barcelona nach Madrid tragen Menschen Masken. Mit bis zu 300 km/h saust der Zug – ein Landflugzeug eher – durch die Gegend, entlang der Städte, durch Tunnel, wo der Luftdruck die Ohren schließt. Eine Wolkendecke liegt über der Landschaft. Bei dieser Geschwindigkeit wird die Landschaft nicht wirklich erlebt. Manchmal Hügelketten mit Windrädern. Auch jetzt im späten November wirkt die Landschaft ausgetrocknet. Ich denke zurück an die Meldungen vom vergangenen Sommer, von Hitzewellen bis zu 50 Grad und Waldbränden, mit denen Spanien heimgesucht worden ist. „transporte sostenible“ steht auf dem Hochgeschwindigkeitszug. Etwas viel Greenwashing ist da sicher auch im Spiel.
Madrid
Ich tauche ein in die Stadt, ihre Geschichte und ihre Gegenwart. Viel kühler als in Barcelona ist es hier. 10 Grad am Morgen. Die Stadt liegt auf fast 700 Meter Seehöhe. Ich ziehe mir die Primaloftjacke an, obwohl die Sonne scheint. Madrid: die höchstgelegene Hauptstadt Europas. Madrid – ein Name aus dem Arabischen. Die Mauren hatten die Stadt gegründet. In der Reconquista wurden sie brutal vertrieben. Ausgelöscht ist die Erinnerung an sie. Der Name Madrid ist geblieben.
Ich zähle die Spuren beim Kreisverkehr vor dem Bahnhof Madrid-Atocha. Sieben sind es. Die Straßen der Innenstadt sind mit Menschenmassen gefüllt, die an diesem „Black Friday“ massenweise die Kaufhäuser stürmen. Vor Lotteriestationen stehen Menschen in Schlangen. Es wird wohl heute ein besonders interessanter Lotterietag sein.
Hostel
Der 2-Kilometer-Weg vom Bahnhof bis zum Hostel hat mir die Stadt schon gut näher gebracht. Das Hostel liegt direkt neben dem Plaza Mayor, dem Zentrum von Madrid, inmitten der Einkaufsstraßen und der Partymeilenwelt. Das Hostel ist schön, sauber und stilvoll. Die Gemeinschaftsräme sind im Retrostil. Die Holzstufen im Stiegenhaus könnten von Gaudi selbst stammen. Der Schlafsaal ist absolut sauber. Ich nehme mir Zeit, für die wohl größte Sehenswürdigkeit von Madrid: Dem Museo del Prado. Ohne auf die Zeit zu achten, wandere ich von Gemälde zu Gemälde, tauche ein in die Geschichten, die die größten Maler – hier muss ich nicht gendern, weil Frauen keine darunter sind – hinterlassen haben: El Greco und Tician, Raffael und Goya undundund. Was es dort zu sehen gibt, steht in den Führern. Vor manchem Bild stand ich lange, erspürte mein eigenes Seelenleben, was in keinem der Führer steht und womit ich wohl ein ganzes Buch füllen könnte. Am längsten bin aber wohl vor den Bildern von Hieronymus Bosch gestanden. Sie passen so gut auch ins Heute, obwohl sie 600 Jahre alt sind.
Es ist inzwischen dunkel geworden. Ich merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Eine der Prachstraßen führt zu einem der Prachtgebäude, wo ich mit dem Lift auf das Dach hinauf fahre, um von oben den Sonnenuntergang zu sehen, während die Weihnachtsbeleuchtungen unten immer stärker hervortreten. In einer der Hauptstraßen findet eine lebendige, große Demonstration statt. Abertausende sind daran beteiligt, friedlich für Rechte eintretend. Die größte Demonstration der anderen Art findet aber wohl weiterhin in den Einkaufsstraßen statt, wo anlässlich vom Black-Friday-Wochenende selbst in die Nacht hinein die Geschäfte geöffnet haben.
Tag 5: Samstag, 26.11.2022
– Madrid – Sevilla
Satellit statt Engel
Gesteuert über ein Satelliten-Navigationssystem – ist Elon Tusk der Besitzer des entsprechenden Satelliten? – , gelenkt von einer digitalisierten Frauenstimme, im Morgendunkel vom Hostel zum Bahnhof, 26 Minuten für 2 Kilometer hat Google berechnet, keine Stimme fragt: „wie geht’s?“ Kein Engel, der über mir wachte. In den Händen das Smartphone – und keine Hand, die wirklich Begleitung in den Tiefen und Höhen des Lebens sein könnte.
Madrid – Meseta – Sevilla: Mit High-Speed in den Süden
Die Anzeigentafel der Highspeed-Züge am Bahnhof Madrid-Atocha ist wie ein Überblick über die großen Städte Spaniens. Barcelona, Toledo, Valencia, … Sternförmig gehen von hier aus die Superzüge in die anderen Zentren. Vor dem Zugang zum Bahnsteig werden die Passagiere wie in einem Flughafen durch eine Sicherheitsschleuse geschickt, Gepäcksstücke werden geröntgt und selbst die Jacke muss ausgezogen werden.
8:15 Uhr. Die Satellitenstädte Madrids werden blutrot von der aufgehenden Sonne beleuchtet. Wortlose Gegenwärtigkeit einer Frau, neben der ich nun sitze. Nebeneinanderreisende und nicht Mitreisende. Mit fast 300 km/h geht es zweieinhalb Stunden weiter in den Süden, weg von der Metropolregion Madrid mit ihren 7 Millionen Einwohnern. Das Menschenbeben gestern in der Innenstadt ließ erspüren, was es bedeutet, in einer Stadt mit drei Millionen Einwohnern zu sein.
Rot ausgetrocknet ist die Erde der Iberischen Meseta. Durch den nördlichen der Teil der Meseta war ich in Ost-West-Richtung mit Jakob und unseren Rennrädern unterwegs. Die weiten Ebenen und dann Städte wie Leon oder Burgos sind mir in tiefer Erinnerung. Grüne Olivenbäume wachsen auf hügeligem Gelände. Strahlend gelb leuchten in der Morgensonne die abgeernteten Getreidefelder. Kleine Straßen durchziehen die Landschaften, ganz ohne Verkehr. Es wäre wohl schön, hier mit dem Rennrad unterwegs zu sein und die Natur zu erspüren.
Klimawandel und Massentourismus
In mir werden die Nachrichtenbilder vom vergangenen Sommer wach: Von Rekordhitze und Dürre in Spanien, von Waldbränden, ausgetrockneten Seen und leeren Stauseen. Madrid wird bis zum Jahr 2050 in einem Wüstengebiet sein – so heiß wie heute in der Stadt Marrakesch soll es werden. Fast vier Grad wärmer als in den Jahren zuvor, soll es 2022 in Spanien gewesen sein. Was ich in Madrid vor allem erlebte: Autos drehen sich in den Kreisverkehren, am Himmel die Kondensstreifen von Flugzeugen, die Kaufhäuser werden gestürmt – kein Friday for Future ist zu spüren. Der Massentourismus wird das Inferno noch befeuern – und ich schäme mich auch ein wenig, hier Tourist zu sein, versuche zugleich so zu leben, dass mein Rucksack an Belastungen klein bleibt und achtsam mit dem Wasserverbrauch zu sein. Die Wege in der Stadt gehe ich zu Fuß. So kann ich das Stadtleben auch besser erfassen und Bewegung mag mein Körper ohnehin. Dem großen Gedrängel weiche ich dann oft aus und flüchte mich in einer Kirche, wo es ruhig ist, oder verweile vor einem Gemälde in einem der Museen.
Nur in Cordoba stoppt der Zug zwischen Madrid und Sevilla. Ein Stopp würde sich wohl lohnen und damit ein Ausflug in die Geschichte einer Stadt, die bekannt dafür ist, dass hier in einer der damals größten Städte der Welt Menschen jüdischen, christlichen und islamischen Glaubens friedlich zusammenleben konnten. In Cordoba gibt es eine der berühmtesten Moscheen, die später zu einer christlichen Kathedrale umgestaltet worden ist.
Sevilla on first sight
Aussteigend aus dem klimatisierten Zug merke ich gleich, dass es nun wieder wärmer ist. Obwohl das Meer noch gut 100 Kilometer entfernt ist, fühlt sich die Luft schon danach an. Die Häuser erinnern mich an jene aus Lateinamerika. Vom Bahnhof bis zum Hostel sind es rund zwei Kilometer. Eine gute Wegstrecke, um mich an Sevilla zu gewöhnen. Die Stadt mit ihren engen Straßen und vielen Plätzen, den einzigartigen Häuserzeilen – wo der Verkehr im Inneren ausgespart bleibt, ist viel angenehmer als Madrid und Barcelona. Gut, dass ich zwei Nächte und Tage hier sein kann.
Die Kathedrale von Sevilla
Für das erste Highlight nehme ich mir gleich vier Stunden Zeit. Mein Schreiben will nicht die Wiedergabe dessen sein, was sich in den Reiseführern findet und in den Audioguides gesagt wird. Mein Interesse gilt immer dem, was dahinter steckt. Wenn einer der Reiseführer stolz davon erzählt, dass einer der Altäre aus Hunderten Kilo Gold gebildet sei, dann denke ich vielmehr daran, welche Gräueltaten an den Indios in Lateinamerika mit dem Raub dieses Rohstoffes damit verübt worden sind. Wenn ein Guide vor dem Grab von Christoph Kolumbus ehrfürchtig erzählt, dass er Lateinamerika entdeckt habe, dann denke ich mir: So ein … Das musste er gar nicht entdecken, vielmehr begann mit ihm eine schlimme Eroberung. Nirgendwo in der gigantischen Kirche – es soll die drittgrößte der Welt sein – finde ich irgendetwas, das eine Herrschaftskritik beinhalten würde. Im Gegenteil: Katholische Könige genießen Heiligenstatus, obwohl sie grausame Kriege gegen die Mauren führten – in einem Riesengemälde wird Santiago als Maurenschlächter dargestellt, obwohl sie den Genozid an den Indios in Lateinamerika zu veranworten haben, obwohl unter ihrer Herrschaft die Juden des Landes verwiesen worden sind und später mit aller Gewalt ein katholisches Spanien gegen alles Nichtkatholische behauptet worden ist. Nach vier Stunden gehe ich hinaus in den Garten mit den Orangenbäumen, der noch muslimischen Ursprungs ist, mit einem Brunnen in der Mitte, wo sich Muslime vor tausend Jahren wuschen, bevor sie zum Gebet in die damals hier riesige Moschee traten. Sie wurde – anders als Granada – von den christlichen Herrschern zerstört, damit sie an dieser Stelle ihre Kathedrale bauen konnten. Der Turm, die Giralda, ist allerdings geblieben. Dazu schreibe ich …
ein Turm in Sevilla
von einem Turm will ich erzählen
oder mehr noch
der Turm erzählt mir
von Muslimen
die ihn erbauten
als höchsten seiner Zeit
Backstein auf Backstein
im almohaidischen Baustil
zum Ruhme von Allah
als Machtanspruch des Islams
als Minarett
um zum Gebet zu rufen
später
so erzählt mir der Turm
Giralda wird er genannt
zum Wahrzeichen ist er geworden
später verschwanden die großen goldenen Kugeln
als christliche Heere vertrieben Muslime
als christliche Könige schändeten islamische Stätten
als eine der größten Moscheen wurde zerstört
und eine der mächtigsten Kathedralen wurde darauf gebaut
als eine christliche Turmkappe nun aus dem Minarett wuchs
als die bronzene Geraldilla ganz oben wurde platziert
besingend den grausamen Sieg gegen die Mauren
später ruft nicht mehr ein Muezzim vom Turm
Glocken hängen in den Arkaden des Turmes
Muezzim und Glocken
sie rufen beide zum gleichen Gott
zu Barmherzigkeit und einem Verzicht auf Gewalt
heute
eine riesige Demonstration am Fuße des Turmes
von einem der Hauptplätze bis zum anderen
Abertausende treten für ihr Anliegen auf die Straße
lebendige, bunte, berauschende Demokratie
heute abends
klar die Konturen des Turmes im Licht der Novembersonne
sattfarben in der untergehenden Sonne
der halbe Mond steht im tiefblauen Himmel
Phantasie möchte ihn auf die Spitze des Turmes setzen
wo die bronzene Giraldillo besingt den christlichen grausamen Sieg
ein Halmond würde ihr gut stehen
heute
eine Französin malte ein Bild vom einzigartigen Turm
sie schläft im Hostel-Stockbett unter mir
wir sitzen gegenüber im Licht des Turmes
ihr Turmbild ist in Schwarz-Weiß gehalten
ein Farbenkreis nähert sich dem Turm
will Farbe schenken dem Turm und dem Leben
unter dem Turm
keine muslimischen und christlichen Heere mehr
Abertausende füllen die Gassen und Plätze
Bilderbucharchitektur in einer Bilderbuchstadt
ein Haus im Stil des Orients
ein anderes Haus im Stil der Renaissance
ein weiteres Haus könnte in einer Straße in New York stehen
hier stehen sie harmonisch nebeneinander
das Leben könnte so schön sein
morgen
wird Giraldillo die Sichel des Neumondes einfangen können?
werden Menschen jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens sich nie mehr bekriegen?
vielleicht nimmt Giraldillo den Halbmond zu sich
legt Schwert und Schild dabei auf die Seite
besingt nicht mehr den Sieg gegen Muslime
lädt zum christlich-muslimischen Flamencotanz ein:
dann wird Advent sein
wenn buntes Farbenrad den Turm erleuchtet
wenn glitzernde Kunstlichter erlöschen
wenn Kerzenlichter Ruhe schenken
und sich Menschen die Hand geben
klaus.heidegger, Sevilla, 26.11.2022
Tag 6 – Samstag, 26.11.2022
Sevilla – Alcacar
Alcazar
Erster Adventsonntag in Sevilla. Das Glockengeläute der Giralda passt zum heutigen Morgen. Mein Hostel „Black Swan“ liegt nur wenige Gehminuten vom UNESCO-Weltkulturerbe entfernt und ist gegenüber der Kathedrale, in der ich tags zuvor viele Stunden war. In Alcazar konzentriert sich Weltgeschichte, wird deutlich, wie die Begegnung zwischen Christentum und Islam gewesen ist, friedlich sowie kriegerisch. Die Eintrittskarte habe ich zeitgemäß am Morgen online gekauft. Nur wenige warten auf Eintritt. Im Sommer soll die Schlange riesenlang sein und Tickets sollen oft nicht mehr verfügbar sein. Heute muss ich weniger schlechtes Gefühl haben, Tourist zu sein. Die königlichen Paläste sind von einzigartiger Schönheit. Über vier Stunden nehme ich mir Zeit für die Räume, die Gänge und schließlich die Gärten, höre mir die Erklärungen dazu mit dem Audio-Guide an, den ich mir auf das Smartphone geladen habe. Im Garten unter den Palmen, ein Abschnitt heißt „the poets‘ garden“, philosophiere ich über Schönheit und versuche in Gedanken und Gefühle Worte zu gießen.
Die besondere Schönheit von Alcazar
Wo islamische Kunstfertigkeit sich harmonisch verbindet mit christlicher Kunst, ohne dass die Eigenart der einen und der anderen Kunst sich auflösen würde, sondern aufgehoben wird im Gemeinsamen, dort ist Schönheit zu finden. Es ist, als würde die Kunst im Palast von Alcazar wie eine Protestdemonstration gegen jene bleibenden Verirrungen in Geschichte und Gegenwart sein, in der christliche Herrscher Muslime bekriegten und muslimische Herrscher Gläubige des Christentums bekämpften.
Wo Harmonie in geometrischen Formen von Quadraten, Kreisen oder Sternen auf vielfältige und bunte Art sich ausdrückt, wo der Himmel als Halbkreis sich öffnet gegenüber dem Quadrat der Erde, dort wird Schönheit begreifbar: Erde und Himmel sind nicht gegensätzlicher Natur, sondern brauchen sich beide, Mensch und Natur sind eingebunden in den Kosmos. Wo die Natur zum Maßstab wird für den Menschen und der Mensch im Einklang mit ihr lebt, dort ist Schönheit zu finden. Freilich ertappe ich mich dann auch dabei, dass selbst der allerschönste Raum im Palast nur ein Abglanz der Schönheit der Natur ist, die in ihrer Großartigkeit nur ganz ein wenig in menschlicher Kunstfertigkeit abgebildet werden kann.
Mein ökologisches Grundgefühl bleibt hängen bei der politischen Vision: würden doch der ganze Globus, die Meere und die Gletscher, die Regenwälder und Flüsse, alle Tier- und Pflanzenarten zum Weltkulturerbe werden! Dann würden die politisch Einfussreichen sowie die Menschen in ihrem Alltagsdasein alles tun, um die Welt vor dem Klimakollaps zu bewahren, um das Aussterben von Tierarten, das Leerfischen der Meere und die Abholzung von Regenwäldern zu stoppen.
Abends in Sevilla
Über die Größe des Flusses, der am Rande der Altstadt ist und das neue Sevilla vom alten trennt, bin ich überrascht. Am Ufer ist das Stadion, in dem immer noch das grausame Ritual der Stierkämpfe stattfindet. In einer Bar an der Promenade wird laute Musik gespielt und lautstark geredet. Auf der Ufermauer sitzen Menschen und schauen sich den Sonntagssonnenuntergang an. Ich steige dazu auf einen mittelalterlichen Turm, in dem an die grausamen Seeschlachten der Vergangenheit – Lepanto ist dabei – erinnert wird und daran, dass die spanische Marine heute die Sicherheit Europas garantiere. Blutrot geht die Sonne unter.
Zurück in der Herberge: M., eine junge deutsche Frau, erzählt mir von ihrer Surf- und Yogawoche im Süden Spaniens. Jetzt wartet sie noch ein paar Tage in Sevilla auf ihren Rückflug. Es ist „Happy Meal“ – das heißt: alle, die möchten, könnten mitessen. Eine schöne Geste dieser Herberge, genauso wie gestern, wo gemeinsames Kochen und ein gemeinsamer Pubcrawl am Programm standen. V. kam erst um 4.00 morgens von diesem Rundgang zurück. M. erzählte, dass da jemand in ihrem Zimmer war, der relativ betrunken um diese Zeit heimkam und ein anderer schnarchte so fürchterlich, dass sie nicht schlafen konnte. Im Fernseher wird das WM-Spiel Deutschland-Spanien übertragen. Zugleich läuft die Musik weiter. Ein Mix von Tönen: Die sich überschlagende Stimme des Kommentators, die Musik – die Beatles sind gerade dran – und dann eben ein Mix aus Englisch, Amerikanisch, Spanisch, Italienisch und Französisch – und den Varianten, die es dazwischen gibt. Manche trinken Bier oder Cola aus Dosen, die meisten sind mit Flugzeugen nach Spanien gekommen. Meine Weltenretterseele ist da nicht geborgen und wenn am Schild bei der Abwasch steht, „save the water, save the planet“, dann ist das wohl im Widerspruch zu so manch anderem Verhalten.
Tag 7: Sevilla – San Sebastian
Sevilla am frühen Novembermorgen
Ich habe wieder gut geschlafen. Die obere Koje im Hochbett war wie ein Wolkenbett, obwohl die Matratze etwas dünn war. Ich hörte nicht einmal, wann Virginie im Stockbett unter mir ins Zimmer kam und die anderen auch nicht. Nur jemand hat leise geschnarcht, so leise, dass es nicht störte. In der Küche kann ich mir einen großen Espresso machen, im Gemeinschaftsraum meine Sachen nach dem Stopfhineinprinzip zusammenpacken und das Problem mit dem neuen Netzkabel für den Laptop lösen. Einige Dinge habe ich unnötig mitgenommen. (…)
Sevilla – Madrid: Die Fahrt
8:15 Uhr. Bei Sonnenaufgang saust der Hochgeschwindigkeitszug weg aus Sevilla. Es wird meine längste Fahrt vom Süden Spaniens ganz in den Norden mit einem langen Zwischenaufenthalt in Madrid. Die erste Fahrtstunde geht es durch eine breite Ebene. Links und rechts der Zugstrecke sind ausgedehnte Obstplantagen. Hier wächst Obst und Gemüse für den europäischen Markt, die Orangen, Mandarinen, Zitronen, Gurken, Tomaten … aus Spanien, die ich daheim in den Supermärkten schon längst nicht mehr kaufe, weil der ökologische Fußabdruck groß ist, weil ich genug weiß von den Ausbeutungsverhältnissen auf den Plantagen, den Tagelöhnern dort, dem enormen Wasserverbrauch und den Emissionen auf den Transportwegen. Nach einer Stunde wird es hügeliger, durch die sich die Hochgeschwindigkeitsstrecke gebohrt hat, mit Wäldern und eingeschnittenen Tälern, die mit Hunderten Brücken überwunden werden. Nichts stellt sich der Geschwindigkeit in den Weg. Dann saust der Zug schließlich wieder gut eine Stunde über die karge Meseta mit ihren teils ausgetrockneten Böden und Olivenhainen.
(…)
Madrid der Moderne
Das gegenwärtige Unterwegssein ist mit vielen Überraschungen verbunden. Überraschung: Der Anschlussbahnhof für den Hochgeschwindigkeitszug nach San Sebastian fährt von einem Bahnhof weg, der am Stadtrand von Mailand liegt. Das heißt: Lokalzug nehmen – der eher eine U-Bahn ist. Überraschung: Im neuen Bahnhofsgelände ist das ganz moderne Mailand. Fünf gigantische Wolkenkratzer aus Glas, Aluminium und Stahl ragen in die Höhe. Ich habe Zeit und nehme mir sie, um da rundherum zu spazieren. An einer Straßenkreuzung sind Polizisten mit ihren Einsatzfahrzeugen, mit Schlagstöcken und in Schutzuniformen. Inmitten dieser Wolkenkratzer bin ich ganz alleine und fühle mich als winziges Menschlein – oder besser noch, wie eine winzige Ameise, die sich in einer Stadt verlaufen hat, wo es keinen Haufen mehr für sie gibt, sondern nur mehr hohe Häuser. Vor einem der Wolkenkratzer besteht die Gartenanlage aus lauter kleinen Betonbrocken. Vor dem Bahnhof gibt es eine riesige Parkfläche für Autos und dahinter entdecke ich wieder ein anderes Spanien. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Auf einer Abrissmauer sind großflächige Graffitis. Zivilisationsmüll liegt davor, Schnapsflaschen, Plastikflaschen, kaputte Sessel, Plastik in allen Ausprägungen. In einer Unterführung ist eine Matratze. Hier wird wohl ein Obdachloser sein Zuhause haben. In den Graffitis wird die ganze Verzweiflung über die gegenwärtige Welt visualisiert, schonungslos und ohne Hoffnungszeichen.
Zum zweiten Mal am heutigen Tag werden mein Gepäck und ich gecheckt. Wie in einem Flughafen. Wie in einem Flughafen heißt es auch warten, bis der Bahnsteig für die Abfahrt genannt wird. Dann strömen die Reisenden darauf los. Inzwischen habe ich mich schon daran gewöhnt, dass in Spanien keine Ansteh- oder Schlangenkultur besteht. Es heißt einfach: Drauflos. Beim Warten wurde ich schon etwas unruhig, weil der Zug nach San Sebastian erst mit einiger Verspätung bekannt gegeben wurde und Infos wegen Verspätung gab es nicht.
Nach Madrid wird die Landschaft ganz besonders. Berge! Irgendwo wird die Bahnstrecke den Jakobsweg kreuzen und damit wird die Erinnerung daran wach, als ich mit Jakob da unterwegs war. Damals fuhren wir über die Berge, jetzt geht es durch viele Tunnels unten durch. Die Landschaft Spaniens lässt sich bei diesem Tempo und so begradigt, untertunnelt und überbrückt nicht wirklich fühlen und erspüren. Eine solche Fahrt passt aber wohl zur Wolkenkratzerwelt, in der ich die Wartezeit überbrückend spaziert bin. In diesen Türmen, so denke ich mir, sitzen die Ingenieure und Bankiers der Hochgeschwindigkeitswelt.
Ich versuche – so lange es noch hell ist – dennoch achtsam die Landschaft aufzunehmen, die eigenartigen südlichen Wälder mit kugelförmigen Bäumen, die großen Felder, in denen die meist mit Steinmauern umrandeten Bauernhäuser wie Spielzeughäuser wirken. Die Herbstabendsonne zaubert wunderbare Farben auf die Landschaft – oder besser gesagt, lässt sie in den schönsten Farben widerstrahlen. Die Konturen der Hügel, Bäume und Häuser treten im Spiel von Licht und Schatten besonders hervor. Bald ist der eigentliche Grund und Anlass meiner Reise erreicht.