Barcelonalauf
Im Gewirr von Straßen verliere ich mich. Mein analog geprägtes Hirn einerseits und digitale Navigationsstimme und GPS-Steuerung andererseits vertragen sich nicht in mir und erzeugen eher Konfusion. Aus dem schnellen Lauf vom Hostel zum Strand in der Sonnenaufgangszeit wird dann das Doppelte. Bin ich auf diesem Platz nicht schon vor einer Viertelstunde gewesen?
Begegnung mit Lazarus
Noch sind die Massen in ihren Häusern und Hotels. Bald schon werden sie hier strömen und am Abend unter der Weihnachtsbeleuchtung wird auf der bekanntesten Promenade Barcelonas nur mehr ein Geschiebe von Menschen sein. In einer Avenue in den Nischen eines Prachtgebäudes schläft ein Obdachloser – heißt er „Lazarus“? – auf Karton liegend und eingewickelt in eine Decke, um sich etwas vor der Kälte zu schützen. Vor ihm steht ein leerer Pappbecher. Der berühmteste Maler Barcelonas, Picasso, er hätte durch seine Kunstfertigkeit die Würde des Obdachlosen zum Ausdruck bringen können. Er hätte es wohl getan. In meinem Blog nun bekommt er eine Aufmerksamkeit, auch wenn sie ihm nicht helfen wird. Jesus hätte ihn für eines seiner vielen Gleichnisse genommen. Ich fühle mich mehr in der Rolle des Prassers, auch wenn ich nicht in einem der Luxushotels in der Rambla residiere. Was wird Lazarus wohl in diese Situation geführt haben, dass er Heimat und Geborgenheit verlor? Während ich die sonst menschenleere Avenue Richtung Meer hinunter laufe, denke ich mir, was wohl das Wichtigste im Leben jedes Menschen ist. Jemanden zu haben, der dich dann auffängt, wenn man ins schier Bodenlose stürzt. Ich bin dankbar für solche Menschen in meinem Leben und blinzle der Sonne entgegen, die über dem Meer aufgegangen ist, und atme die frische Meeresluft ein.
Begegnungen am Strand
Im Hafengelände am Meer ist gerade die Sonne aufgegangen. Ich bin nicht der einzige Läufer. Im Gegenteil. Sehr viele nützen die mit Palmen gesäumte Strandpromenade entlang der weltberühmten Sandstrände. Es ist schon eine besondere Laufstrecke an diesem Sonntagmorgen und immer wieder halte ich inne, um den Augenblick besser wahrzunehmen. Dort, wo das Meer etwas Wellen schlägt, versuchen Surfer gute Wellen zu erwischen. Ich mag das Rauschen des Meeres und die Wellen, die weniger stark sind als die Wellen in meiner Seele. Im Süden ist das formschöne Luxushotel Marriott, wo eine Nacht von 300 Euro bis zu 8000 Euro in der Luxusvariante kostet. Wieder fällt mir Lazarus ein. Vor einem Häuschen am Strand schlafen noch ein paar Obdachlose. Der Sand fühlt sich fein an. Hätte ich eine Badehose dabei, ich würde ins Meer schwimmen gehen.
Durch einen berühmten Park mit einer imposanten Brunnenanlage laufe ich, auf deren oberster Stelle eine überlebensgroße vergoldete Reiterstatue mit vier Pferden thront, bis ich schließlich dann durch eine Triumphpforte aus Backsteinziegeln in Richtung Park Gürel abbiege und verlaufe mich schon wieder. Ein Umweg von mehr als 30 Minuten. Dann gerate ich ganz woandershin. Ich beschließe, die U-Bahn zu nehmen und erwische eine falsche Linie. An allen Ecken gibt es Eingänge in den Park Gürell. Es sind Tausende hier. Hotspot des Massentourismus selbst jetzt im Dezember. UNESCO-Weltkulturerbe. So ganz besonders erlebe ich den Park gar nicht. Ja, das Haus mit den blauen engen Gängen und Zimmern von Gaudi ist schön. Der große Brunnen davor, die Stiegen und manche Gaudi-Verzierungen erinnern mich an Hundertwasser, dessen Haus in der Löwengasse, wo ich in der Nähe wohnte, aber leicht mithalten kann. Die drei Kreuze auf einem Steinhügel am höchsten Punkt vom Park Gürell sind für mich besonders – auch weil sie einen guten Blick auf das Häusermeer Barcelonas darunter geben. Dort oben ist es ruhiger als unten bei den Tausenden. Nochmals schaue ich auf das Häusermeer der katalanischen Hauptstadt, in der ich nun viel länger als geplant war. Inzwischen ist es längst nach Mittag. Was ein kurzer Strandlauf am Morgen werden sollte, der bei Sonnenaufgang begann, wurde lang. Es bleibt eine Reise mit Überraschungen.
klaus.heidegger, Barcelona, 5.12.2022