Die Geschichte einer kleinen Jakobsmuschel

Früh am Morgen sitzt ein Fremder am Rande einer großen Stadt am Strand. Die Sonne ist gerade über dem Meer aufgegangen. Er liebt Sonnenaufgänge. Oft ist er in seinem Leben schon im Dunkel der Nacht auf einen Berg gestiegen, um die ersten goldenen Strahlen zu sehen. In ihnen ist so viel Hoffnung. Er liebt auch die Sonnenuntergänge. In ihnen liegen Tränen geborgen. Aber jetzt ist nicht Abend. Und jetzt ist er nicht auf einer Bergspitze. Jetzt hört er das Rauschen der Wellen und spürt den weichen Sand unter den Füßen und atmet den frisch-salzigen Wind ein. Er schließt die Augen, um die Sinne auf das Meeresrauschen zu konzentrieren. Was erzählt ihm das weite Meer? Vor einem Monat war er auf der anderen Seite, weit drüben, wo eine große Insel ist, an dessen Küste er mit dem Rad entlangfuhr und sich immer wieder vom salzigen Wasser tragen ließ. Es war eine Zeit einer ganz besonderen sportlichen Freundschaft und eines wunderbaren Teamspiels. Auch dort stand er manchmal früh auf, um den Aufgang der Sonne zu sehen. Aber das ist eine andere Geschichte und doch verwandt mit der Gegenwart. Jetzt baut die Sonne mit ihrem Strahl eine goldene Brücke über das Wasser zum einsam Träumenden. Er bückt sich, um eine kleine Muschel aufzuheben. Eigentlich will er sie nicht dem Meer wegnehmen, doch dann rechtfertigt er sich: Wahrscheinlich würde sie ohnehin bald von einem der Läufer zerbrochen werden, die an diesem Sonntagmorgen bereits am Strand entlanglaufen, oder von den Surfern, die nun mit ihren Brettern kommen, um mit den Wellen zu spielen. Vielleicht ist diese Muschel kein Zufall, sondern ein Geschenk des Meeres. Er möchte die Muschel einer lieben Person schenken und ihr damit einen besonderen Sinn verleihen. Noch weiß er nicht wem. Die Muschel ist klein und schön und sandsalzig und braunfarben wie der Sand am Strand und fühlt sich in seiner Hand fest und zugleich zerbrechlich an. Achtsam und dankbar steckt er sie in seine linke Jackentasche. …

Einen Tag später. Der Hochgeschwindigkeitszug saust den Lagunen entlang. Die Dezembermorgensonne zaubert wunderbare Farben in die Landschaft, lässt die rosa Flamingos noch mehr rosa erscheinen und die weißen Schwäne noch weißfarbener. Die rötlich-gelben Sumpflandschaften und die mit frischem Schnee überzuckerten Berggipfel im Westen tun seiner Seele gut nach all dem vielen Asphalt und dem Beton der Millionenstädte, in denen er zuletzt war. Seine Finger fliegen über die Tastatur des Notebooks, ohne dass er dabei seine Blicke von der Landschaft draußen lösen müsste. Er muss einen Artikel fertig stellen und sein Kopf ist voll von Gedanken, die nach außen drängen. „Figueres“ steht auf dem Bahnhofsschild. Oft hält der Zug ja nicht. Es ist die letzte Station vor der spanisch-französischen Grenze. Eine Frau  steigt zu und sitzt ihm nun gegenüber. Sie legt einige Notizbücher vor sich auf den Tisch. Manchmal schreibt sie mit ihrer Füllfeder etwas in ein Notizbuch. Sicher sind es Gedichte. Sie reist mit Rucksack. Beim Hinsitzen schenkte sie dem Fremden gegenüber ein kurzes Begrüßungslächeln. Worte gibt es keine. Nichts weiß er von ihr und doch viel mehr. An der Grenze rinnt ihr eine Träne über die rechte Wange. An was sie wohl denkt? Was schreibt sie in ihr Buch? Welche Musik hört sie? Warum hat sie geweint? Nur achtsam sieht er manchmal zu ihr. Männer sollen mit ihren Blicken vorsichtig sein. In seinem zurückhaltenden Blick liegt kein Starren, kein Habenwollen, nur ein staunendes Wertschätzen. Wie alt ist sie? Mitte Dreißig? Seine Gedanken fliegen hin und her zwischen der Landschaft und den Städten, die draußen vorbeisausen. Figueres wurde im spanischen Bürgerkrieg besonders oft bombardiert. Salvador Dali ist ihr bekanntester Bürger. Zuletzt sah er in einem Museum ein Bild von Dali. An der Grenze zu Frankreich werden die Pässe kontrolliert. Schwerbewaffnete Polizeibeamte gehen durch den Zug. Der Schengenraum ist in diesen Zeiten wohl nur mehr auf Papier. Der Zug saust durch Südfrankreich.

The unknown fellow traveller

I’d like to know
what music she is listening now
while she is closing her eyes

I’d like to know
what dreams she feels now
while she is listening to the music

I’d like to know
if dreams and music are real
while feeling her presence

Kurz vor dem Umsteigen in einer großen französischen Stadt  fragt er sie nach dem weiteren Weg. „Suisse“, ihre Antwort. „Me too“, antwortet er. „So maybe we see us in the next train again“, ihre kurze Antwort. Zwei Reisende haben nun den gleichen Weg und verlieren sich dann wieder unter den Tausenden, die am Bahnhof warten, ankommen, wegfahren, am Bahnhof, wo Frauen mit Kindern im Tragetuch ihr Bettelglück versuchen, wo Reisende nervös oder gelassen auf die Abfahrtszeiten schauen. In den letzten Wochen, seit er wieder mehr Zeit hat, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, dachte er oft an große Philosophen und Philosophinnen und brachte sie mit seinem Leben in Verbindung. Albert Camus kommt ihm nun in den Sinn. Er hatte sich während dieser Reise immer wieder als Fremder inmitten einer Masse von Menschen erlebt, mehr noch aber als jemand, der sich den Augenblicken öffnet, weil in ihnen letztlich der Sinn des Lebens liegt. Beim Warten auf den Anschlusszug – er ist um eine Stunde verspätet – treffen sie sich wieder. Auch ein weiterer Reisender wird zum Mitreisenden. Nun sind sie zu dritt. Aus Fremden wird ein Team, aus Fremden werden Vertraute. Das Leben bekommt seinen Sinn inmitten des Absurden. Fremdheit löst sich auf in einer Seelenverwandtschaft. Wer die drei von außen beobachtet, könnte meinen, die sind schon lange miteinander unterwegs. Sie philosophieren miteinander, als säßen sie im Hörsaal einer philosophischen Fakultät und nicht in einem vollbesetzten Sechserabteil des Regionalzuges zur Schweizer Grenze. Sie erzählen sich von dem, was in ihrem Leben wirklich wichtig ist. Auch wenn er nervös ist, weil er nicht weiß, ob er die weiteren Anschlusszüge noch erreichen wird oder irgendwo die Nacht auf einem kalten Bahnhof wird verbringen müssen, lebt er nun nur noch im Augenblick. Kurz vor dem Aussteigen fragt er sie, ob er ihr etwas in die Hand legen darf. Sie nickt und schließt die Augen und fühlt: „I think I now what it is …“ Er darf sich eines ihrer Bildern aussuchen, die sie in eines ihrer Notizbücher gemalt hatte,  und wählt jenes, das ihn an die surrealen Bilder von Salvador Dali oder Picasso erinnert. Ein kostbares Geschenk. Nun ist es so, als hätte alles seinen Sinn bekommen. Der Streik der französischen Bahn und die um zwei Tage verspätete Fahrt, das Umbuchen auf einen Erste-Klasse-Platz: es wurde sehr gut im Augenblick. Bald wird sie über die Brücke gehen, mit der jenes Buch beginnt, das er während der Fahrt zu lesen begann: Nachtzug nach Lissabon. Auch das wohl kein Zufall.

the tiny shell

the emotions are deep like an ocean
you can hear their sound in a shell
the mountains are built of shells
they can move again

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