Rück- und Ausblicke auf mein theologisches Suchen im Angesicht einer Benedikt XVI.-Nostalgie – Teil 2

20er-Jahre Theologinnen und Theologen

Sie sind alle Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geboren. Kinder der Zwischenkriegszeit sind es. 1926 Jürgen Moltmann, der die „Theologie der Hoffnung“ begründete, 1928 Johan Baptist Metz, der Vater der „Politischen Theologie“, 1928 Gustavo Gutierrez, einer der Gründer der Befreiungstheologie, 1929 Dorothee Sölle mit ihrem öko-feministischen Ansatz. In meinen Studienjahren las ich ihre Bücher, die mich seither auf verschiedenen Lebensetappen begleiten. Auch Joseph Ratzinger fällt mit dem Geburtsjahr 1927 in diese Zeit. Auf meine Lebensfragen – oder um es mit Martin Heidegger zu formulieren: auf die Herausforderungen des Geworfenseins in diese Welt  – gab mir Ratzingers Theologie keine Antworten. Sie lagen woanders. Das vorherrschende Gottesbild vom „allmächtigen Vater“ sowie die Jenseitsvertröstung waren für mich nicht relevant.

Politische Theologie von Metz

Religion könne auf den Begriff „Unterbrechung“ reduziert werden, sagte Metz. Existenziell gesehen ist diese keine Leeraussage, sondern für mich immer wieder erfahrbar. Dort, wo die Hoffnungslosigkeit im Alltag unterbrochen wird durch einen Augenblick der Hoffnung, wo die Traurigkeit durch ein tröstendes Wort unterbrochen wird, dort ist auch für mich Religion erfahrbar.

„Gott ist tot“ und doch lebt das Göttliche woanders

Dorothee Sölle ließ sich – wie beispielsweise auch Karl Rahner – vom Existenzialismus eines Martin Heidegger beeinflussen.  „Dasein ist das Hineingehaltensein ins Nichts.“, zitierte sie gerne ihr philosophisches Vorbild. Theologisch gewendet liegt hier auch die Gott-ist-tot-Theologie. Die „Gott-ist-tot“-Ansage einer Dorothee Sölle Ende der 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts bleibt aktuell. „Ich glaube nicht an Gott …“, war eine der Kernaussagen vieler Jugendlicher, die in meinen Religionsunterricht kamen. Sie mussten ihn als Schülerinnen und Schüler eines katholischen Privatgymnasiums besuchen. Ihre Eltern waren nicht geboren, als Dorothee Sölle bereits formulierte: „Gott ist tot.“ Sie meinte damit – ganz in der Tradition der klassischen Religionskritik von Feuerbach, Marx, Nietzsche, Sartre … – dass es diesen tradierten omnipotenten Himmelsvatergott mit seinen Vertröstungsfunktionen nicht mehr geben darf. Könnte ich es heute überspitzt auf den Punkt bringen mit dem Satz: Ich glaube nicht an den Gott, wie er in der Theologie von Ratzinger-Papst-Benedikt propagiert wird? Im Sinne vom dialektischen Denken von Theodor Adorno bedeutet diese Negation, dass sie mich zu einer anderen Position führt, zu einem ganz anderen Gottesbild, das ich – wieder auch ganz in der Tradition von Sölle-Boff & Co – im Leben und der Botschaft Jesu wiederfinde. Kein Gott der Vertröstung, sondern der radikalen Menschenliebe, kein Gott der Bewahrung, sondern ein Gott der Befreiung.

Reich Gottes als zentrale Kategorie

Das erste, freiwillig gewählte bibeltheologisches Seminar  in meinem Theologiestudium wählte ich bei Nikolaus Kehl. „Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip“ lautete der Titel – und das gleichnamige Buch dazu von Helmut Merklein.  Wir lassen dazu neutestamentliche Texte im griechischen Original. Im Zentrum des christlichen Glaubens, so die Quintessenz, steht das „Reich Gottes“, die „Gottesherrschaft“ – aber nicht als Vertröstungsgröße, sondern in ihrer radikalen diesseitigen Möglichkeit. Dieses Verständnis ist wohl auch zentral für die Befreiungstheologien. Der Schweizer Theologe Urs Eigenmann zeigt in einem Artikel auf, dass Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. vor allem in seinem Jesusbuch mehrmals die Reich-Gottes-Botschaft Jesu verneint, ja das Denken in Reich-Gottes-Kategorien sogar einer satanischen Versuchung gleichsetzt.

Bewahrende Theologie des Katechismus

Die Theologie von Joseph Ratzinger führte ihn selbst nicht zu politischen Nachtgebeten wie bei Dorothee Sölle. Ratzinger war als damals junger Theologe in Tübingen und Regensburg nicht zu finden, als Menschen zu Tausenden gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gingen. Die 60er-Jahre waren geprägt von solchen Aufständen, von einem Aufbegehren. Als junger Theologieprofessor verließ Ratzinger aus Protest gegen die Studentenbewegung die Universitätsstadt Tübingen und ging nach Regensburg, wohin der Aufbruch bislang noch nicht gekommen war. Während die Religion zu finden war, als die Völker in Afrika sich von den Kolonialherren befreiten und in Lateinamerika Christinnen und Christen versuchten, sich aus den Diktaturen zu lösen, baute Ratzinger seine Theologie lieber auf Augustinus auf und blieb wohl dabei. Dass man sich auf Augustinus beziehen kann als Inspiration zum Widerstand, zeigte uns freilich auch das Beispiel von Sophie Scholl. Selbst eine Augustinus-Rezeption lässt also verschiedene Wege zu, die in eine gegensätzliche Richtung gehen könnten: Im Sinne einer radikalen Ernstnahme der „Liebe“ – die nicht im Sinne einer Verjenseitigung und Vertröstung gesehen wird, sondern als im Menschlichen realisierte Göttlichkeit, nicht aber als in eine Transzendenz und Jenseitigkeit hin verlagerte Vertröstungskategorie mit all den Abwertungen und Missachtungen vor allem im Bereich der Sexualität.

In einem Interview wurde Dorothee Sölle einmal gefragt, ob sie an eine „Auferstehung“ im Jenseits glaube. Ihre Antwort damals: „Daran denke ich nicht!“ Mir ist bewusst, dass im Persönlichen der Ansatz der Vergegenwärtigung und der Ausschluss einer bestimmten Jenseitshoffnung auch gefährliche und vor allem schmerzhafte Dimensionen enthält. Da heißt es eben, sich nicht mit bestimmten Zuständen abzufinden, sondern für eine Verbesserung der Lage einzutreten. Das bedeutet im Persönlichen manchmal, eine radikale Einsamkeit zu ertragen und den Schmerz, wenn Versöhnung nicht gelingen mag.

Klaus Heidegger, 7.1.20243

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