Die Avatar-Saga aus religiös-pazifistischer und persönlicher Sicht

Avatar und ich

Bild: Meeresexkursion-Amalfi-Juli-2022

Ist es nicht ein programmierter Absturz für jemanden, der die großen Klassiker der Literaturgeschichte liebt, von Shakespeare über Goethe bis zu Brecht und Co und ganz besonders die Lyrik von Rilke, Celan, Sachs oder Bachmann schätzt, der sich in die Philosophien von Martin Heidegger oder Hannah Arendt vertieft, der sich möglichst grundlegend informiert über politische Vorgänge und politische Diskussionen nicht auslässt, dessen Leidenschaft die Theologie ist – und dann sitzt er unter Popcorn essenden Menschen in einem großen Kinosaal mit 3-D-Brille und sieht sich 192 Minuten lang den Mega-Blockbuster Avatar 2 an? Wäre sein Platz nicht besser im nahen Landestheater, wo auch 3-D-Erlebnisse geboten werden, für die man keine schwarze Brille aufsetzen muss? Nein, sage ich mir, ich möchte diese Welt und mich verstehen – und ich muss die großen literarischen und philosophischen Schriften nicht vergessen – um mich auf einen Blockbuster von Century Fox einzulassen. Im Gegenteil: Ein religionswissenschaftlicher Blick und soziologische Folien helfen mir, den „als besten und teuersten Film aller Zeiten“ apostrophierten Film besser zu verstehen. Schon im ersten Teil von Avatar habe ich mehr wahrgenommen als Spektakel und Unterhaltung. Die Avatar-Saga war in den letzten Jahren immer auch eine Brücke, um mit meinen Schülerinnen und Schülern über religiöse Grundfragen ins Gespräch zu kommen.

Die Wirkmacht von Avatar

Neytiri und Jake schauen mich mit ihren großen gelben Augen an, wenn ich am Langlaufzentrum in Seefeld vorbeigehe. Damit meine ich das Film-Plakat, das am dortigen Kino hängt. Zugegeben: als Mann wünschte ich mir eine Neytiri, mit der es gelingt, in den Wirren dieser Welt nicht unterzugehen. Überdimensional sind die Werbescreens für Avatar in den Metropolen dieser Welt. Avatar schlägt schon jetzt alle Rekorde. Der teuerste Film aller Zeiten wird auch jener Film mit den höchsten Einspielergebnissen weit jenseits der Milliardengrenze. Die Sci-Fi-Welt von Pandora ist schon bekannter als die griechische Sagenwelt. Cameron hat Homer den Rang abgelaufen. Pandora ist das neue Paradies, von dem die Religionen erzählten, ist das Gelobte Land, das zugleich bedroht ist von den Mächten des Todes. Ich kann jedenfalls die Avatar-Saga nehmen, um darin die uralten Mythen und religiösen Erzählungen der Menschheitsgeschichte zu entdecken.

Jesus von Nazareth und Jake, Maria Magdalena und Neytiri

Die Avatar-Saga hat eine Retterrolle. Jake Sully, ein ehemaliger verwundeter Soldat, Mitglied der „Sky-People“, ist – so die Handlung im ersten Teil – zum Avatar geworden. Er stirbt nicht, sondern wieder als Avatar wiedergeboren. Neytiri, die „Kriegerin“ und Heldin des Stammes „People“, hilft ihm, dass er dort aufgenommen wird. „Ich brauche deine Hilfe …“, lautet der Schlüsselsatz von Jake im ersten Teil von Avatar. Jake ist wie Harry Potter ein „Halbblut“. „Wahrer Mensch und wahrer Gott“, so lauten die zentralen christologischen Dogmen. Wo Getrenntes zusammengeführt wird, kann Erlösung geschehen.

Col. Miles Quaritch als Inkarnation des Bösen

Religiöse Erzählungen leben sehr oft von einem Kampf des Bösen gegen das Gute, von teuflischen Mächten, die Göttliches bedrohen. In den Drehbüchern von Avatar ist dies der Soldat Quaritch, der im zweiten Teil selbst als Avatar die Physiognomie der Pandora-Bewohner angenommen hat. Aus der religiösen Mythologie ist es der Kampf des Erzengels Michael gegen den Satan, aus dem legendarischen Stoff ist es Georg, der gegen den Drachen kämpft. Aus der Sci-Fi- und Phantasy-Welt der Jetztzeit kennen wir Darth Vader aus Star Wars, Mister Snow von Tribute von Panem oder Lord Voldemort aus der Harry-Potter-Story. In Avatar 2 entflammt der Kampf zwischen Gut und Böse wie der Endkampf im apokalyptischen Buch der Offenbarung. Michael und Maria werden am Ende siegreich sein, so die biblische Botschaft. Zumindest ein vorläufiges Happy End gibt es auch in Avatar 2 – vorläufig, weil die nächsten Folgen schon darauf warten, gedreht zu werden und dann in die Kinos zu kommen.

Rettung und Erlösung durch Berührung

Kiri, die in die Patchwork-Familie der Sullys aufgenommen wurde, die letztlich eine Inkarnation von Grace ist, ist zu meiner Lieblingsfigur in Avatar 2 geworden. Wer ihr Vater ist, bleibt ein Geheimnis. Geheimnisvolle Empfängnisse und Geburten zeichnen alle Religionen aus, von Krishna über Buddha bis zu Jesus. Kiri hat die ganz besondere Fähigkeit, mit der Natur – den Pflanzen und Tieren – in Verbindung zu sein. Was sie vor allem auszeichnet, ist die tiefe Verbundenheit mit der Natur. Als alle anderen der Sully-Familie zunächst die wilden Wassertiere zähmen müssen, ist es bei Kiri umgekehrt. Eines dieser Wesen, das ein Mittelding zwischen Krokodil und Dinosaurier ist, sucht sich Kiri aus. Kiri ist zugleich auch eine Mittlerin zwischen der göttlichen und „irdischen“ Welt von Pandora.

Berührung ist letztlich das Zauberwort. Die Welt ist dort heil, wo Berührungen in gegenseitiger Wertschätzung geschehen. Zu einer meiner Lieblingsszenen zählt die Begegnung zwischen Payakan, einem Ausgestoßenen der Tulkuns, und Lo’ak, dem zweitältesten Sohn der Sullys. Zärtlich berührt Lo’ak die dicke Haut des Walfisches, der zu seinem Beschützer wird. Ein Ausgestoßener wird zum Retter. Der Stein, der weggeworfen wurde, ist zum Eckstein geworden – so lautet ein Bildwort aus den Evangelien. Bei einer meiner letzten Skitouren berührte ich mit meinem Finger die Nadeln einer Zirbe – gerade so, wie es Kiri tat. Manchmal tut es eben so gut, die Verbindung mit der Natur zu spüren bei all den vielen Trennungen, die den Alltag oft bestimmen.

Verbindung mit dem Göttlichen

In der Avatar-Saga ist es Neytiri, die Tochter des Stammesfürsten, die die Rolle ihrer Mutter als spirituelle Führerin des Omaticaya-Clans übernimmt. Die Na’vi zeichnen sich durch eine spirituelle Verbindung zur Natur wie zur Muttergottheit Eywa aus. Diese Verbundenheiten werden in religiösen Ritualen gepflegt. Ein zentraler Ort ist der Seelenbaum, der auch eine Verbundenheit mit den Vorfahren ermöglicht. Das Einssein in der Natur – für mich vor allem in den Bergen – ist das, was Kraft und Energie schenkt. Umso mehr schlägt mein Herz für jene Menschen und Organisationen, die gegen die Zerstörung der Natur vor allem in Gestalt der Erderhitzung kämpfen. Gäbe es eine Kiri wirklich als Mensch, so hätte sie sich wohl auch an den Klebeaktionen der Letzten Generation beteiligt oder wäre im Widerstandscamp in Lützerath gewesen.

Krieg und Zerstörung und Rettung der Welt

Die heile Welt auf Pandora, wie sie die Sully-Familie im Urwald erlebte, aus der sie nun aufgrund der menschlichen Eroberer fliehen muss,und wie sie neu in der Wasserwelt beim Mekayinavolk geschildert wird, wird durch die Rohstoffgier der Menschen zerstört. Die Avatar-Saga verdichtet, was in der Sprache der Ökonomie als „Rohstofffluch“ bezeichnet wird. Länder mit wertvollen Rohstoffen erfahren zumeist die schlimmsten Formen der Ausbeutung. Fakt ist: Die Rohstoffgier macht unseren Planeten kaputt. Die Erde wird zerstört, ob es die Abholzung der Regenwälder ist, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten oder die grausame Behandlung von Tieren. Die grausame Walfischjagd als Spitze des brutalen Umgangs der Menschen mit den Tieren gibt es wirklich.

Im Dreistundenepos von Avatar nehmen die kriegerischen Darstellungen, die Jagd auf die Tulkuns, die Zuspitzung von good guy Jake gegen bad guy Miles einen breiten Raum ein. Hier könnte wohl die größte Schwäche und auch ideologische Gefahr der Avatar-Saga liegen: Sie kann als letzte Verherrlichung von Gewalt gedeutet werden – um die eigenen Kinder zu retten, ist der Einsatz von Gewaltmitteln erlaubt. Da hat Gewaltfreiheit keinen Platz mehr. In dieser Logik können dann Leopard-2-Panzer in die Ukraine geliefert werden. Da gibt es keine Sprache des Friedens und der Versöhnung, sondern es bleibt nur mehr die Option Sieg oder Niederlage. Ich habe jedenfalls die opulenten Schlachtszenen für mich als Anti-Kriegs-Narrativ interpretiert – und vielleicht werden in den nächsten Folgen Neytiri, Jake und ihre Kinder sowie die anderen Völker von Pandora aus ihrer Verbundenheit mit der Natur und dem Göttlichen die gewaltfreien Wege entdecken, in der das Böse nicht mehr besiegt, sondern verwandelt wird, so wie Darth Vader in Star Wars letztlich seine radikale Bosheit überwand, um seinen Sohn zu retten.

Gerechter Krieg

Die Auseinandersetzung mit der Logik der traditionellen Lehre vom „gerechten Krieg“ durchzieht meine friedenspolitische Arbeit seit Studienzeiten wie ein roter Faden. Die Frage lautet, ob es eine religiöse Rechtfertigung für militärische Verteidigung gibt. In Avatar-2 geht Jake Sully zum Seelenbaum, um zu Eywa zu beten und sie um Beistand im Krieg zu bitten. Neytiri allerdings erklärt, dass Jakes Bitte nicht richtig sei, weil die Große Mutter sich nicht auf eine Seite stellen würde, sondern nur das Gleichgewicht wiederherstellen möchte. Als jedoch Jake und Neytiri die Schlacht zu verlieren drohen, interveniert Eywa doch, in dem sie die Tierwelt von Pandora auf die Seite von Jake und Neytiri bringt. Eywa wird zu einer Gottheit, wie wir sie auch in einem jüdisch-christlichen Narrativ kennen – als Gott, der die Israeliten beim Auszug aus Ägypten unterstützt, indem er die Ägypter im Meer ertrinken lässt, als Gott, der die Bösen bestraft und die Gerechten belohnt. Am Ende von Avatar 2 können wir uns religionskritisch fragen, ob sich das Gottesbild von Eywa nicht gefährlich verändert hat, das die Na’vi letztlich in die teuflischen Fangstricke von Gewalt-Gegengewalt hineintreiben könnte. Ich bin jedenfalls gespannt auf die nächsten Folgen von Avatar um herauszufinden, ob die Völker von Pandora wieder zu ihrem gewaltfreien Gottesbild zurückfinden werden, in dem keine Rechtfertigung von Gewalt ihren Platz hat.

Kommentare

  1. Lieber Klaus, ich bin ja absolut kein Kino-Geher, habe mir aber kürzlich den Avatar 2 angesehen. Bin überrascht, wie viele Bezüge zu biblischen und außerbiblischen Narrativen und Botschaften ich entdeckt habe, eben auch Apokalypse. Vieles hält uns aber auch einen Spiegel vor.
    Und im Sinne Deiner Vision von der Verwandlung finde ich den Schluss sehr bemerkenswert: Der Böse wird nicht vernichtet, ausgelöscht, sondern bleibt am Leben – eine Ende, das (h)offen lässt in Richtung Wandlung — biblisch: „damit er sich bekehre und lebt“. – Und wir uns auch.

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