Eine skialpine Durchquerung der Dolomiten im Winter 2023

Tag 1: Ein schöner Gipfel und eine atemberaubende Abfahrt

Am Rollepass auf 1970 m startet die Tour. Da oben sind einige Liftanlagen, vor denen Blechkisten geparkt sind. Die Felszacken der Palagruppe bilden ein beeindruckendes Panorama. In den Rucksäcken ist alles verstaut, was wir für 6 Tage benötigen. Da merkt man auch das Gewicht auf den Schultern.Wir steigen zum Passo Mulaz (2.619 m) auf. Ein kurzer Abschnitt bei einer Steilpassage ist etwas knifflig. Teils ist der Schnee sehr hart und an einer Stelle, wo Geröll darunter liegt, bröselig. Von Beginn an denke ich mir: Bei Skidurchquerungen und Gipfelüberschreitungen gibt es aber nicht so leicht die Möglichkeit, umzukehren. Angekommen am Joch mit dem breiten Kessel lässt sich wieder durchschnaufen. Ich bin froh, dass wir dann noch den Monte Mulaz (2906 m) besteigen. Zunächst in Spitzkehren – das Gelände wird bis zu 40 Grad steil – und dann mit Steigeisen weiter auf den Gipfel mit dem eigenwilligen Gipfelkreuz mit Glocke. Zum Glück ist der Schnee inzwischen schon etwas aufgeweicht. Der Rundumblick ist beeindruckend und dann ebenso die atemberaubende Abfahrt durch ein steiles Tal hinunter nach Falcade. Dass es keinen Pulver gibt und die harte Schneeunterlage gerade reicht, um nicht auf Fels und Almwiesen zu kratzen, stört mich gar nicht. Dafür müssen wir vor Lawinen keine Angst haben und können auf Gipfel steigen und außerdem ist das Erleben dieser einzigartigen Landschaft ohnehin das Wichtigste. (19 km, 1562 Hm)

Tag 2: Die Marmolata überfahren

Wo wir heute genau unterwegs sind, geht nicht so leicht in meinen Kopf. Das Auf- und Ab ist etwas verwirrend. Ausgangspunkt ist jedenfalls auf der Bergstraße, die zum Passo Pellegrino führt. Von dort geht es zu einem Almdorf, dann steiler Anstieg hinauf zu einem Gipfel auf fast 3000 m. Der Aufstieg in einer steilen Flanke mit Spitzkehren im Schnee, der nicht wirklich hält, ist knifflig. Der Gipfel, Cimba Ombretola (2.932 m) selbst ist weitläufig mit einem kleinen Holzkreuz, um das ein Stacheldraht gewickelt ist. Die letzten Meter gingen wir zu Fuß über Geröll hinauf. Dann Steilabfahrt hinunter mit Blicken zur imposanten Marmolada-Südwand. Am Ende des Tales ist dann die Seilbahn, die uns auf die Punta Rocca (3.250 m) bringt. Nun wartet noch eine eindrucksvolle Abfahrt auf der Nordseite der Marmolada – dort ist auch der Gletscher mit jenem Abbruch, der vergangenen Sommer zur Katastrophe geführt hatte. Die Abendsonne zaubert noch ein wunderbares Licht auf den beeindruckenden Gipfel. Das Refugio Marmolada liegt beim Stausee am Fedaiapass. Ein jetzt geschlossenes Museum zum „Grande Guerra“ lässt mich an den Krieg in der Ukraine denken. Würde doch jeder Krieg ins Museum kommen, würde doch jedes dieser Museen ein Mahnmal sein für ein Nein zu jedem Krieg und jeder Kriegsvorbereitung. Das Abendessen mit Pommes und Spiegelei wird etwas zum Running Gag in unserer Gruppe – dankbar bin ich für alles, was mir in dieser Woche geschenkt wird, für Menschen, die dafür arbeiten, dass ich jeden Tag wieder genügend Kraft habe.

Tag 3: Überschreitung des Piz Boe und Steilabfahrten und eine Übernachtung in einem Gipfel-Refugio

Gegenüber sind die Nordflanken des Marmolada-Massivs und wir sehen gut jene Linie, die wir am Tag zuvor ausgehend von der Station Punta Roca hinunter gefahren sind. Zunächst geht es heute 300 Höhenmeter hinauf zu einer Bergstation. Ich gehe die Strecke gleich zwei Mal, weil ich nochmals hinunter zum Marmolada-Refugio fahre, um meine vergessene Jacke zu holen. Dann die Piste hinunter und auf der anderen Seite mit doppelter Liftunterstützung wieder hinauf zum Pordojjoch. Dort oben wimmelt es von Skifahrenden. Die Pisten gleichen einem Ameisenhaufen. Wir ziehen die Felle auf und steigen Richtung Piz Boe (3152), den wir überschreiten. Direkt am Gipfel liegt die Schutzhütte Campana Fassa. Neben dem kleinen mit bunten tibetischen Fahnen geschmückten Kreuz – symbolträchtiger positiver Glaubenssynkretismus! – steht eine kleine Madonnenstatue. Ich streiche ihr noch über den Kopf, bevor der Abstieg auf der anderen Seite beginnt. Zum Glück ist der Schnee griffig, denn der Abstieg mit den Ski am Rücken ist relativ ausgesetzt. Skifahrtechnisch ist alles zusammen herausfordernd. Einmal lande ich in einem Schneeloch, das sich um einen Felsblock gebildet hat – mein Carbonstecken bricht dabei.

Mit der letzten Gondel – 16.30 Uhr – geht es vom Falzarego-Pass hinauf zum Rifugio Largazoi. Es ist eine großartige Unterkunft mit einem einzigartigen Rundumblick. Die sinkenden Abendsonne taucht die Dolomitenwelt rundum in ein wunderbares Licht. Ich bin dankbar, dass mir hier der Anblick von so viel Schönheit geschenkt ist.

Tag 4: Durchquerung des Fanes Nationalparks, Überschreitung des Piz Lavarella und Steilabfahrten

Ein wunderbarer Sonnenaufgang um 7.00 Uhr. Wir sind die ersten, die vom Gipfel-Refugio die harte präparierte Piste hinunter sausen, um zu jener Stelle zu kommen, wo es zunächst flach durch den Fanes Nationalpark hinein geht. Wieder sind wir – mit Ausnahme von einer anderen Skitourengruppe – den ganzen Tag alleine unterwegs. Der Aufstieg auf den Piz Lavarella (3.055) wird dann zunehmend steiler und am Ende heißt es wieder: Ski auf die Rucksäcke und über steile Schneefelder und einen ausgesetzten Grat zur Spitze zu gehen. Eine kurze Kletterei war auch dabei, was mit den Steigeisen relativ unangenhem war. Die Ski-Verankerung von meinem Rucksack reißt ab und die wackelnden Ski am Rucksack lassen mich unsicher sein. Eine neue Bergfreundschaft und Steigeisen geben Sicherheit. Die Überschreitung hinunter in den Norden ist respekteinflößend. Nach dem steilen Nordhang folgt eine gewaltige Steilrinne, die sehr eng beginnt. Es folgen Schluchten und ein Hochtal und dann ein schmaler Weg hinunter. Die 40 Grad steile und enge Rinne rutschen wir vorsichtig seitlich hinunter. Zwischen den Steilwänden fahren wir hinaus, ein etwas steiniger Almweg und dann fast eben mit Skatingschritten. Diesmal brauchen wir sogar schon die Stirnlampen, weil es nach 10 Stunden Unterwegssein dunkel geworden ist. (ca 40km, ca 2000 Hm)

Tag 5: Steile Couloirs und Dolomitenwelt

Wir können direkt von unserem Hotel weggehen. Zunächst eine aufgelassene Skipiste bis zu einer Scharte, die zwischen irgendwelchen Felszacken liegt. Dort hinunter – Ski tragend und etwas im Firn – und wieder eine andere Scharte hinauf, zuletzt auch wieder Ski tragend und mit Steigeisen. Auf der letzten Scharte machen wir eine ausgiebige Rast. Das Hinuntersteigen wird zum Glück leichter, als ich gedacht hatte. Und wieder ist der Tag gefüllt bis zum Abend – mehr als 1800 Höhenmeter kommen zusammen. Und wieder erlebe ich es so positiv, wie wir als Gruppe zusammenhalten und unser Guide darauf baut, dass alle selbst wissen müssen, was sie in jeder Situation zu tun haben, ob es Harscheisen oder Steigeisen braucht etc. entscheidet jeder für sich.

Tag 6: Rund um die Drei Zinnen und ein Durchschlupf zwischen Großer und Westlicher Zinne

Zunächst geht es von unserer **- Unterkunft wieder ein Stück des Anstieges hinauf, den wir gestern gewählt hatten, bevor wir in nördlicher Richtung den Zinnen entgegen gehen. Sanfte Anstiege durch Latschenwälder und bald schon sehen wir die Auronzohütte, die am Fuß der Südwände der Zinnen liegt. Bis dort können im Sommer die Autos auf der Mautstraße hinauffahren. Dann sind auch Tausende Touristen dort oben. Heute ist es ruhig und die einmalige Felsformation der Drei Zinnen können wir ungestört wahrnehmen. Die Auronzohütte (2320 m) – ein Kaffee dort oben war geplant – ist geschlossen. Nur ein paar Mal fährt ein Skidoo, der einen Rodler oder Spaziergänger hinauf bringt. Ich blicke hinüber zur Steilabfahrt auf der gegenüberliegenden Gebirgskette, die wir gestern gemacht hatten. Von hier aus wirkt sie sehr respekteinflößend. Es liegt gerade so viel Schnee, um an der Südseite der Zinnen etwas Richtung Westen zu gehen und dann schließlich zunächst in Spitzkehren die immer steiler werdende Rinne zwischen Westlicher und Großer Zinne hinauf zu steigen. Ich bin froh um Pickel und Steigeisen. Nördlich geht es wieder ebenso steil hinunter und wir sehen nun die beeindruckenden Nordwände. Die Querung unter der Nordwand der Großen Zinne geschieht mit Fellen auf fast eisigem Schnee. Weitläufig ist unten die Lange Alm. Kurze Abfahrt, dann wieder Felle aufkleben und hinauf zur Dreizinnenhütte (2405 m). Auch die ist geschlossen. Außer uns ist niemand unterwegs. Ich nehme das gigantische Panorama dankbar wie ein großes Geschenk in mich auf. Vor mir die Nordwände der Drei Zinnen, hinter der Hütte die Türme des Toblinger Knoten und im Osten der Paternkofel. Nun beginnt die letzte von vielen Abfahrten unserer Dolomitendurchquerung. Hartgepresster Schnee auf oft steilen latschenbewachsenen Hängen, hinunter ins Flischleintal und auf einem Forstweg hinaus nach Moos. Zuletzt nehmen wir noch die Loipe, um die Tour in einem Gasthaus in Sexten ausklingen zu lassen. (18.00)

Vorbei an den Mahnmalen der Gebirgskämpfe

In den steilen, senkrechten Felswänden sind so manche Löcher von den Stollen und Befestigungen aus der Zeit des Gebirgskrieges zu sehen. In Hütten und Herbergen sind Schaukästen mit Fundstücken, die an den sinnlos-mörderischen Stellungskrieg von 1915-1916 erinnern. Massive Stahlhelme, Reste von Granaten, Blechgeschirr. Und fast 110 Jahre später? Während ich mit den Ski unter strahlend blauem Himmel die Dolomiten durchquere, denke ich an den Krieg in der Ukraine, der mit der völkerrechtswidrigen russischen Invasion vor exakt einem Jahr begann und nun auch zu einem Stellungskrieg und Abnützungskrieg mutiert ist. Die Argumente der Kriegslogik sind die gleichen geblieben. Man sieht sich im Recht, sich gegen eine Kriegsmacht zu verteidigen, die das eigene Territorium zu beanspruchen sucht. Immer wird ein Krieg als „Verteidigungskrieg“ gewertet. Um sich zu verteidigen, wurde Südkorea von den USA militärisch besetzt – und später wurde in Vietnam gekämpft und dann im Irak und dann in Afghanistan. Man setzt auf die Zerstörungskraft des Waffenpotentials, um einem Feind die größtmöglichen Verluste zu bereiten. Es geht dabei nicht um die Bewahrung von Menschenleben, sondern um Territorium. Man opfert Menschen für ein paar Flecken Boden.  Damals in dieser Bergwelt standen sich Alpini und Kaiserjägerschützen gegenüber. Tausende Soldaten starben – oftmals aus Hunger und im Winter aufgrund von Lawinen. Und danach: Eltern hatten ihre Söhne verloren, Ehefrauen ihre Männer, Abertausende waren kriegsversehrt. Heute noch stehen in den Tälern unten die Kriegsdenkmäler für die Menschen, die als „Gefallene“ bezeichnet werden und für nationalistisch verbrämte Heldenverehrung missbraucht werden. Heute zeigt das ganze Gebiet der Dolomiten zugleich, dass ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Sprach- und Kulturgruppen kein Problem ist, sondern eine Bereicherung darstellen kann. Der Krieg brachte nur Zerstörung mit sich. Frieden kam durch Verhandlungen und für Südtirol eine weitgehende Autonomie. Italiener, Deutsche und Ladiner leben in den Dolomitentälern friedlich zusammen. Der Gebirgskrieg in den Dolomiten könnte zeigen, wie irrsinnig ein Kampf um Territorien auf Kosten von Menschenleben ist. Im vergangenen Jahr sind in der Ukraine schon weit mehr Soldaten getötet worden – schätzungsweise 200.000, als in den zwei Jahren des Alpenkrieges. Solche Gedanken begleiteten mich auch, als die vor 100 Jahren umkämpften Gipfel der Drei Zinnen, des Toblinger Knoten oder des Paternkofels und der Marmolata mir so nahe waren.

Schlussgedanken

Diese Skidurchquerung der Dolomiten mit vielen Gipfeln und steilen Rinnen wäre nicht möglich gewesen ohne die Expertise eines Bergführers, der uns achtsam begleitete, ohne die Gruppe, in der von Beginn an sehr viel Einfühlungsvermögen zu finden war, und auch mit dem Glück, dass das Wetter eine Routenwahl ermöglichte, die im Winter nicht selbstverständlich ist. Bei Lawinengefahr wäre beispielsweise vieles nicht möglich gewesen. Jedenfalls sind die Dolomiten eine wirklich einzigartige und unvergleichliche Gebirgswelt, die in dieser Jahreszeit noch ohne Tourismusandrang ganz besonders zur Geltung kommt. Dankbar blicke ich zurück – und weiß auch um das, was unerfüllt bleibt.

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