- Pazifismus ist nicht böse oder: Ich bin kein „Friedensschwurbler“
In einem Rap habe ich einen Begriff genannt, den ich bis vor kurzem gar nicht kannte. „Friedensschwurbler“. Jetzt weiß ich, was ich für manche bin, wenn ich mich gegen die zunehmende kriegerische Dynamik ausspreche, wenn ich besorgt bin angesichts der weltweiten Aufrüstungsspiralen, wenn ich sage: Nein zu jeglichen Kriegsvorbereitungen, Ja zu Verhandlungen; Nein zu Waffenlieferungen, Ja zu Schritten der Deeskalation; Nein zum Krieg, Ja zum Frieden. Als Pazifist bin ich ein Friedensschwurbler.
Die Pazifismuskritik ist nicht neu. Sie durchzieht die ganze Geschichte – die Kriegsgeschichte, müsste ich sagen. Pazifismuskritik durchzieht auch meine eigene Geschichte. Ich bin es gewohnt, mich als Pazifist rechtfertigen zu müssen. Das war schon vor 40 Jahren so, in den 80er Jahren, als ich mich im Rahmen der Kath. Jugend in der Friedensbewegung engagierte und wir uns gegen die NATO-Nachrüstung organisiert hatten. Als wir mit dem Button „Schwerter zu Pflugscharen“ an großen Demonstrationen teilnahmen, wurden wir als „nützliche Idioten“ beschimpft und gefragt, ob wir vom Kreml finanziert würden. Solche Unterstellungen gibt es auch heute. In einer Talkshow wurde Sarah Wagenknecht vor Kurzem vorgeworfen, sie würde von Putin bezahlt. Ich war vor 40 Jahren lange in der Beratung für die Zivildienstkommissionen. Wer Pazifist war und den Kriegsdienst verweigern wollte, musste sich rechtfertigen und sein Gewissen unter Beweis stellen. Früher wurde ich selbst von den leitenden Personen meiner Diözese wegen meines Pazifismus verurteilt. Es hieß: Das sei doch unmoralisch, wenn man sein Land nicht mit der Hand in der Waffe verteidigen wolle. Zum Glück hat sich diese kirchliche Position heute verändert.
- Pazifismus definieren
Beginnen müsste ich wohl wieder mit einer Definition. Was ist Pazifismus? Es ist eine Haltung und politische Entscheidung, auf kriegerische Bedrohungen und Ausschreitungen ohne Gegengewalt zu antworten und sich gewaltfrei für Frieden einzusetzen. Sie hat eine individuelle Seite. Ich kann für mich Pazifist sein. Sie hat aber auch eine kollektive Seite. Ich kann auch für den staatlichen oder zwischenstaatlichen Bereich eine pazifistische Position einnehmen bzw. für kollektive Entscheidungen pazifistische Optionen einfordern. Beide Formen – sowohl individuell wie kollektiv – sind für mich relevant.
Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist für mich in der Frage des Pazifismus nicht zielführend. Das bedeutet: Als Pazifist lasse ich mich nicht reduzieren auf eine gesinnungsethische Position, sondern sage: Pazifistische Ideen sind immer zugleich auch verantwortungsethisch und müssen es sein. Es würde uns auch weiterhelfen, wenn wir nicht von „dem Pazifismus“ sprächen, sondern von pazifistischen Ideen, Inhalten und Strategien. Sie sind immer zugleich pragmatisch.
- Pazifistische Ideen sind nicht überholt
Gerade angesichts der von Olaf Scholz proklamierten Zeitenwende, gerade angesichte des widerwärtigen, bösartigen, verbrecherischen Angriffskrieges der russischen Streitkräfte auf die Ukraine braucht es pazifistische Ideen, wobei wir hier auch differenzieren müssen. Es gibt nicht nur die radikal-pazifistischen Standpunkte, sondern auch pazifistische Bestrebungen selbst hinein in die hohe Politik und das Militär. Erinnern möchte ich beispielsweise an die eher zögerliche Haltung des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, die von der polnischen Kriegspolitik doch noch weit entfernt ist. M.a.W.: Wir können auch festmachen, wo pazifistische Gedanken vorhanden sind, ohne dass es ein strikter Pazifismus ist.
Ich stehe dazu: Ich bin Pazifist und ich muss mich nicht schämen. Ich bin überzeugt, gerade angesichts dessen, was in dieser Welt vor sich geht, in der Tradition des Pazifismus zu stehen.
Und es gilt weiterhin, es gilt unbedingt: „Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut soll immer wieder mit Blut abgewaschen werden.“
2) Pazifismus ist antimilitaristische Kritik und bedeutet Ausstieg aus einer gefährlichen Eskalationsdynamik
Gefahr eines Atomkrieges
Durch die kriegerischen Entwicklungen, die längst nicht mehr auf die Ukraine beschränkt sind, ist die Welt gegenwärtig so nahe an einem Atomkrieg wie noch nie zuvor. Der ganz große Krieg droht. Vor ein paar Tagen haben die Wissenschaftler, die die sogenannte Atomkriegsuhr betreiben, mit der gemessen wird, wie nahe wir an einem Atomkrieg sind, mit 90 Sekunden vor 12 eingeschätzt. Daher muss die Strategie des Westens gegenüber Kriegen dringend verändert werden. Man braucht eine andere Logik als die militärische Logik. Das Eskalationspotenzial muss herunter.
Allein in den letzten Wochen gab es immer wieder Vorfälle, die ein Anlass für einen noch viel größeren Krieg sein könnten. Vor ein paar Tagen wurde beispielsweise über dem Schwarzen Meer ein US-Drohnenflugzeug von einem russischen Kampfjet „abgeschossen“. Vor ein paar Wochen wurde auf polnisches Gebiet – also auf NATO-Territorium – eine Rakete gefeuert und es war lange nicht klar, woher sie gekommen sei. Wäre sie aus Russland abgefeuert worden, hätte dies den Bündnisfall bedeuten können und damit wäre die Beistandspflicht aktiviert worden. So könnte der Dritte Weltkrieg beginnen.
Vorgestern wurde bekannt, dass die beiden NATO-Länder Polen und Slowakei der Ukraine Kampfjets zur Verfügung stellen werden. Wir erleben seit einem Jahr, wie immer mehr die so genannten „roten Linien“ neu gezogen werden und schon nicht mehr gelten. Vor einem Jahr diskutierte die deutsche Regierung noch über die Lieferung von Panzerhelmen für die ukrainische Streitkräfte. Dann waren es Schützenpanzer. Schließlich wurden es die Leo-2-Kampfpanzer, die nicht nur mehr einer Verteidigung dienen. Wenn im Ukrainekrieg vom Westen immer mehr Waffen geliefert werden, dann bedeutet es auch, immer mehr zur Kriegspartei zu werden. Es bedeutet beispielsweise, dass ukrainische Soldaten in den NATO-Ländern an den entsprechenden Waffengattungen ausgebildet werden müssen.
Die heutige Situation nach einem Jahr Krieg in der Ukraine ist vergleichbar mit der Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Damals wollte niemand den großen Krieg. Schlafwandlerisch ist man aber in diesen Krieg gestolpert. Mit Bertha von Suttner gilt es auch heute laut zu formulieren: „Die Waffen nieder!“
- Aufrüstungsdynamiken
Der Krieg in der Ukraine befeuert im wahrsten Sinn des Wortes die Kriegsindustrie und lässt die Kriegskassen wie nie zuvor klingen. Auch die EU befindet sich auf politischer wie auf operativer Ebene auf Kriegskurs. Ich möchte an dieser Stelle eine paar Stichworte nennen. In der EU wurde der sogenannte „Strategische Kompass“ beschlossen. Bis zum Jahr 2025 soll ein Aufrüstungspaket von zusätzlich 200 Milliarden Euro umgesetzt werden. Bereits von 2017 bis 2021 sind die EU-Militärausgaben um 30 Prozent gestiegen. Die EU-Staaten werden bis 2025 bis zu 5 Mal mehr für militärische Verteidigung ausgeben als Russland. Strategischer Kompass bedeutet aber auch: Das Einstimmigkeitsprinzip wird aufgegeben und die Koalition der Willigen wird allein über Krieg- oder Friedenspolitik entscheiden. Auf operativer Ebene bedeutet es den Ausbau eines EU-Hauptquartiers, global agierende EU-Battle-Groups und eine gemeinsame Kriegskassa.
- Nein zu militärischen Dynamiken
Pazifismus bedeutet ein klares Nein zu solchen Entwicklungen. Ein Nein zu einer Entwicklung der EU zu einem militärisch agierenden Bündnis. Nein zur Aufrüstung. Nein zum militärischen Waffengang. Mit einer Atommacht kann nicht Krieg geführt werden, ohne mit der Gefahr eines Atomkrieges zu rechnen.
Jeden Tag sterben hunderte, vielleicht tausende Menschen. Diese Strategie ist verderblich, ist sinnlos: daher braucht es andere Wege. Mariupol wurde vor einem Jahr zerstört. Bachmuth sieht heute aus wie Verdun. Mehr als 100.000 Menschen sind auf beiden Seiten getötet worden. Millionen sind auf der Flucht. Abertausende sind körperlich und seelisch verletzt. Zerstörte Städte. Zerstörte Infrastruktur. Militärische Logik ist unmoralisch!
3) Pazifismus ist nicht Kapitulation, sondern höchste Aktivität
Ein Redakteur der Berliner taz hat vor kurzem einen Essay geschrieben mit dem Titel: „Pazifismus ist nichts für Weicheier.“ Und es stimmt: Die linke Backe hinzuhalten ist nicht Unterwerfung, sondern höchste Aktivität, die zweite Meile mitgehen ist eine wirksame Strategie der Entfeindung. Pazifismus bedeutet, sich systematisch nach Alternativen umzusehen.
Die Alternative mit Blick auf die Invasion in der Ukraine lautet nicht: Unterwerfung oder militärischer Widerstand sondern: Wir brauchen die vielen gewaltfreien, diplomatischen Wege gegen die Unterwerfung. Die Alternative lautet nicht: Sieg oder Sieg.
Bekannt ist vielleicht die Studie eines katalanischen Friedensforschungsinstitutes, die vom völkerrechtswidrigen Angriff im Februar 2022 bis Juni 2002 ein paar hundert Beispiele des zivilen Widerstands gegen die russische Invasion aufgelistet hat.
Ich möchte hier ein Beispiel erwähnen, das anschaulich darstellt, wie Gewaltfreiheit erfolgreich funktionieren kann. Als die die russische Armee zwei Tage nach der völkerrechtswidrigen Invasion in Saporischja einmarschiert ist, eine Stadt mit ungefähr 40.000 Einwohnern, hat sie den Bürgermeister festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Darauf ist die Zivilbevölkerung auf den Marktplatz gegangen und hat sich singend und lächelnd der Armee entgegen gestellt, ganz friedlich, ohne Aggression. Die russische Armee hat ein paar Mal in die Luft geschossen. Aber das hat niemand erschreckt. Darauf hat es Verhandlungen der Zivilbevölkerung mit der Armee gegeben mit dem Ergebnis: der Bürgermeister wird freigelassen und andererseits dürfen die Russen schauen, ob in den Häusern Waffen versteckt sind. Es wurde keine Waffen gefunden. Am 28. 3. ist die russische Armee von Saporischja weggezogen.
Solche Fälle sind viel zu wenig bekannt. Dabei war dieser Protest gar nicht systematisch vorbereitet. Pazifistisch denken würde ja bedeuten, sich gezielt, geplant, gut vorbereitet auf solche gewaltfreie zivile Widerstandsformen einzulassen. Von „Strategic Nonviolent Conflict“ bzw. von „Civilian Based Defense“ spricht die Friedensforschung. Die Konzepte einer Sozialen Verteidigung, die Theodor Ebert, Gene Sharp oder das Friedensforschungszentrum Schlaining entwickelten, sind nicht obsolet.
Pazifismus ist freilich auch eine Frage des Menschenbildes: Pazifistisch denken heißt davon auszugehen, dass jeder Mensch in sich gut ist. Durch gewaltfreie Methoden wird dieses Gute zum Vorschein gebracht. Dann können wir mit Konstantin Wecker weiterhin singen: „Und wenn die Feinde kommen, werden wir sie umarmen …“
Die Friedens- und Konfliktforschung zeigt: Mit gewaltfreien Methoden gibt es weniger Leid und weniger Zerstörung. Gewaltfreie Strategien führen mehr zum „Erfolg“ als militärische Maßnahmen.
Bertram Russel oder Albert Einstein, die sich immer für den Pazifismus ausgesprochen haben, haben eine Ausnahme gemacht: Nämlich die Bekämpfung von Hitlerdeutschland. In diesem Punkt haben sie für eine militärische Befreiung Option bezogen. Das ist die eine Ausnahme. Aber: Von einer solchen Position sind wir so weit entfernt. Das lässt sich nicht vergleichen. Putin ist nicht Hitler. Das russische System ist nicht Hitlerdeutschland. Ein verbrecherisches System wie das nationalsozialistische System ist nicht gegeben.
Es ist richtig, dass die Welt sich gegenüber einem russischen Imperialismus wehren muss und die Völker beschützen muss, die unmittelbar davon betroffen sind. Zugleich gilt: Pazfistische Strategien sind dabei wesentlich wirksamer.
4) Pazifismus liegt in Diplomatie, in Kompromissen und in Verhandlungen
Seit der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands hat es mehrere Bemühungen für eine Verhandlungslösung gegeben. Ich möchte an zwei erinnern, die zuletzt – beispielsweise im Zusammenhang mit dem „Manifest für den Frieden“ – von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer mehrmals zitiert wurden: Der israelische Ex-Präsident Benet hat im März 2022 versucht zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln. Ein Friedensschluss sei greifbar gewesen, meinte er. Dann aber kam es zu Interventionen aus GB und den USA, dass man jetzt nicht verhandle. Kurz darauf kam es zu Verhandlungen in Istanbul. Man hatte damals ein starkes Aufeinanderzugehen. Die Ukraine hätte auf einen NATO-Beitritt verzichtet, aber Sicherheitsgarantien bekommen. Umgekehrt hätten die Russen gesagt, wir ziehen uns hinter die Linien des 24.2. zurück. Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger werden Verhandlungen sein.
Augenscheinlich ist geworden, dass die beidseitige Kriegslogik nicht zum Erfolg führt: Dazu wieder zwei Bekräftigungen: Die US-amerikanische Rand-Corporation, die das US-Militär berät, stellt klar fest, von der Strategie eines langen Abnützungskrieges abzusehen, weil die Eskalationsgefahr so groß sei. Der oberste General der US-Streitkräfte meinte: Krieg kann nicht militärisch gewonnen werden.
5) Pazifismus ist in Alternativen zu denken
Gewaltfreie Strategien und ihre Methoden können höchst erfolgreich sein, würden sie systematisch angewendet. Ein Beispiel. Letzten Herbst war ich im Baskenland. In Donostia/San Sebastian besuchte ich das baskische Nationalmuseum. In einer Ausstellung zur Geschichte des Baskenlandes hieß es: Hätten weder große Teile der katholischen Kirche noch die westlichen Mächte Franco unterstützt, hätte es im Gegenteil wirtschaftliche und politische Sanktionen gegeben, so wäre seine Diktatur viel früher beendet worden. Auch hier liegt wieder eine bleibende Ansage – bis in die Gegenwart des Ukrainekrieges hinein. Im Geflecht internationaler Wirtschaftsbeziehungen wäre es möglich, Imperatoren die Grenzen zu setzen. Ökonomische Rahmenbedingungen und
Egal ob in Spanien oder der Ukraine, ob in Afrika, Asien oder Europa, überall auf der Welt gelten die Erkenntnisse aus der Friedensforschung, wie Kriege ohne Militärgewalt beendet werden können. Seit der völkerrechtswidrigen Invasion russischer Streitkräfte hat die ukrainische Zivilgesellschaft spontan und mutig in Hunderten gewaltfreien Aktionen wie ziviler Ungehorsam, Straßenblockaden oder Kommunikationskampagnen ihren Widerstand ausgedrückt. Das Internationale Katalanische Institut für den Frieden (ICIP) hat in Zusammenarbeit mit einem Institut der Universität Jena Daten über den gewaltfreien Widerstand in der Ukraine vom 24. Februar bis zum 30 Juni 2022 gesammelt und ausgewertet. Insgesamt listet der umfangreiche Forschungsbericht 235 dokumentierte gewaltfreie Aktionen auf. Sie werden in drei Kategorien systematisiert: Protestmaßnahmen (148), gewaltfreie Interventionen (51) sowie Formen der Nicht-Zusammenarbeit (36). Es ist wie eine To-Do-Liste des gewaltfreien Widerstands, wie ich sie in einem Forschungsprogramm unter Leitung von Gene Sharp an der Harvard Universität kennenlernen und erforschen konnte. In einer interaktiven Karte des katalanischen Institutes kann die zeitliche sowie geographische Abfolge der gewaltfreien Aktionen im Rahmen dieser drei Kategorien nachverfolgt werden. Während die offenen Protestaktionen im April aufgrund stärkerer Repressionen abnahmen, nahmen die verdeckten Widerstandsformen von Nicht-Zusammenarbeit und zivilem Ungehorsam zu. Gewaltfreie Interventionen waren vor allem zu Beginn sehr verbreitet. Bilder von Bürgerinnen und Bürger, die Straßenblockaden errichteten, Straßenschilder austauschten und Panzer an der Weiterfahrt hinderten, gingen durch die Berichterstattungen. Da die Ukraine reich an Erfahrungen mit gewaltfreier Aktion ist, da es viele Vernetzungen auf unterschiedlichen Ebenen gibt, ist der in der Frühphase der Invasion organisierte gewaltfreie Widerstand verständlich.
Internationale Studien haben zwar gezeigt, dass auch gewaltfreier Widerstand keine Erfolgsgarantie geben kann, doch noch weniger kann es das Setzen auf die militärische Karte. Im Gegenteil. Ein historischer Vergleich zeigt, dass gewaltfreier Widerstand mehr als doppelt so oft erfolgreich war als militärischer.
Wir sehen es seit Wochen in der Ukraine: Der Versuch, die von Russland besetzten Gebiete militärisch zu „befreien“, feuert den Krieg immer noch mehr an, führt zu völlig zerstörten Städten, Abertausenden Toten und Verletzten und drängt eine friedliche Zukunft für das Land hinaus.
Die Schwächen des gewaltfreien Widerstands in der Ukraine sind ebenfalls offensichtlich. Sehr bald schon wurde mit voller Kraft auf die militärische Widerstandskraft der Ukraine gesetzt. Kampfparolen waren an der Tagesordnung. Generalmobilmachung erfolgte. Massive Waffenlieferungen aus dem Westen begannen. Allein die USA haben in den vergangenen Monaten viele Milliarden für militärische Rüstungsanstrengungen in der Ukraine ausgegeben. All diese Anstrengungen verdrängten die anfänglich gewaltfreien Protestmaßnahmen.
Geschichte ist nicht dazu da, um gefährliche Irrwege zu wiederholen, sondern um die Lehren daraus zu ziehen: Sie lautet jedenfalls: Gewaltfreie Widerstandsformen gegen illegitime Eroberungen sind, wenn systematisch vorbereitet und geschult, jeder Gewalt vorzuziehen.
6) Pazifismus ist Verständnis
Der Krieg in der Ukraine hat eine Vorgeschichte. Ich möchte allerdings gleich hinzufügen. Diese Vorgeschichte rechtfertigt in keiner Weise den völkerrechtswidrigen Angriff von Putin und seinen Truppen auf die Ukraine im Februar 2022. Dieser Angriff ist absolut verwerflich und schrecklich.
Zugleich gilt festzuhalten: Im Vorfeld dieser Invasion standen kriegsförderliche Entwicklungen. Von Papst Franziskus stammt das Zitat: „Das Bellen der NATO an der Tür Russlands hat vielleicht die Invasion verursacht.“ Sicherheitsexperten stellen fest: Die NATO-Osterweiterung hat dazu geführt, dass die Ideologie der russischen Führung verändert worden ist und die nationalistischen Kräfte in Russland gestärkt wurden.
7) Tendenziell pazifistische Argumentationen – Kriterien des sogenannten „Gerechten Krieges“
Gerade weil ich Pazifist bin und weil ich überzeugt bin von gewaltfreien Lösungsmöglichkeiten von kriegerischen Konflikten, finde ich in den klassischen Kriterien eines Gerechten Krieges weiterhin einen tauglichen Ansatz, der pazifistischen Grundideen entgegenkommt. Wie rechtfertigt man einen Krieg bzw. kriegerische Handlungen? Welche Bedingungen sind dafür ausschlaggebend? Wir können sie auch auf die kriegerischen Entwicklungen in der Ukraine beziehen.
- Man könnte argumentieren, für die Ukraine gäbe es einen gerechten Grund, nämlich der Kampf für die bedrohte territoriale Integrität. (Causa iusta) Der ukrainische Staat ist angegriffen worden, was ihm auch völkerrechtlich das Recht zur Verteidigung gibt.
- Zweitens kann argumentiert werden, dass der ukrainische Staat eine rechte Absicht verfolgt, nämlich die Verteidigung der territorialen Integrität des Staates und damit auch den Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger und der demokratischen Instanzen.
- Drittens schließlich, müsse der Krieg von einer legitimen Stelle ausgehen. Das könne nur ein Staat oder Staatenbund sein, nicht aber irgendeine bewaffnete Gruppierung. Auch das trifft mit Blick auf die Ukraine zumindest ansatzweise zu. Wenn man es ganz genau nähme, dann gibt es eigentlich nur eine Instanz, die als legitime Stelle anzusehen wäre, nämlich der UN-Sicherheitsrat. Allerdings ist dieser aufgrund der Zusammensetzung und Funktionsweise des UN-Sicherheitsrates – mit Russland und China als Vetomächte – nicht entscheidungsfähig. Somit ist es die Ukraine selbst, die sich die Legitimität zuschreibt – u.a. auch mit Blick auf das völkerrechtlich garantierte Recht zur Verteidigung.
- Nach diesen 3 Kriterien kommen wir aber zu weiteren Kriterien, die alle nicht erfüllt werden. Ein viertes Kriterium lautet, dass die Wahl militärischer Mittel nur das letzte Mittel bzw. das äußerste Mittel sein dürfe. (Ultima ratio) Wir müssen uns da wiederum fragen: Ist wirklich genügend verhandelt worden? Wurden Gespräche gesucht?
- Ein weiteres Kriterium lautet: Die Wahl kriegerischer Mittel sei nur dann legitim, wenn es eine plausible Aussicht auf Erfolg gäbe. Heute sehen wir in der Ukraine: Statt Erfolg gibt es nur eine permanente Eskalation, an dessen Ende ein Atomkrieg stehen könnte.
- Ein anderes Kriterium spricht von der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Das bedeutet, dass die Verluste, die Zerstörungen, die Anzahl der Getöteten, der Verwundeten usw. nicht größer sein dürfen als die Ziele, die man erreichen will. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine ist dies eindeutig: Komplett zerstörte Städte wie Mariupol oder Bachmuth, auf beiden Seiten schätzungsweise 100.000 getötete Soldaten, enorme Kriegsschäden, gigantische Vernichtung von Kapital und Ressourcen. Das alles rechtfertigt nicht irgendwelche Geländegewinne. Die Verhältnismäßigkeit ist nicht gegeben.
Schlussstrich. Die Kriteriologie der klassischen Lehre vom bellum justum besagt, dass alle Kriterien gegeben sein müssen. Es geht also in der Rechtssprache um eine taxative Aufzählung. Ich kann nicht einzelne Kriterien einfach weglassen. Wenn auch nur eines dieser Kriterien nicht gegeben ist, dann gibt es keine Legitimation zum Krieg! Die gerechte Krieg-Argumentation zwingt uns zu einer Multidemensionalität des Denkens, wenn ich beispielsweise nicht nur nach dem gerechten Grund frage, sondern auch nach der rechten Absicht. Für mich selbst als Lehrer in der Schule und in der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern waren die Kriterien des gerechten Krieges wertvolle Argumentationshilfen. Ob es nun der Krieg in Afghanistan war oder der Golfkrieg: Immer kommt man mit dieser Systematik jedenfalls zur klaren Ansage: Nein zum Krieg! Ja zu friedlichen Mitteln. Auch wenn die Gerechte-Krieg-Argumentation oft missbräuchlich verwendet worden ist: sie kann auch pazifistischen Grundhaltungen unterstützen.
Heute gilt: Die militärische Antwort der Ukraine und jener, die sie mit Waffen unterstützen, entspricht nicht zentralen Bedingungen eines gerechten Krieges. Wieder einmal zeigt sich, dass die Ethik des gerechten Krieges eine pazifizierende Wirkung hat.
Ich könnte hier auch noch auf das Ius in Bello eingehen, nämlich die Art und Weise wie Krieg geführt werden darf. Hier sind die Kriterien heute Teil des internationalen Völkerrechtes – ich denke nur beispielsweise an die wichtige Diskussion über Kriegsverbrechen oder über bestimmte Waffengattungen, wie zuletzt die Frage von Streumunition.
8) Pazifismus ist die christliche Antwort
Abschließen möchte ich meinen Vortrag mit einem weiteren Impuls für meine eigene pazifistische Einstellung: mein Glaube an Jesus Christus, seine gewaltfreie Botschaft und seinen Gewaltverzicht, der gespeist ist aus einer tiefen Verwurzelung im Judentum und im Volk Israel.
Oftmals haben die Religionsgemeinschaften und Kirchen zu beidem beigetragen: Zur Rechtfertigung von brutalen kriegerischen Auseinandersetzungen genauso wie zum friedlichen Zusammenleben.
Mir ist das bei meinem Aufenthalt in Spanien vergangenen Herbst immer wieder bewusst geworden. Die iberische Halbinsel wurde von römischen Heeren erobert. Bereits damit beginnt die christliche Widerstandsgeschichte, für die beispielsweise die Märtyrerin und Stadtpatronin von Barcelona steht. Die Hl. Eulalia wurde Opfer römischer Staatsgewalt und ist Anwältin für Menschen, die konsequent die Nachfolge Jesu – auch eine Nachfolge in der Gewaltfreiheit – leben, ohne sich dies von Imperatoren verbieten zu lassen. Die römische Herrschaft wurde schließlich durch die Westgoten beendet. Ihre Feldzüge waren religiös aufgeladen, da sie Anhänger der Lehre des Arius waren – anders als die lokale Bevölkerung. Am prägendsten war dann die Geschichte der Mauren – der muslimischen Eroberer der Halbinsel. Nachdem sie dort ihre Herrschaft errichtet hatten, folgte an Orten wie Sevilla, Cordoba oder Granada ein friedliches Zusammenleben der drei ReligionenJudentum, Christentum und Islam – vorbildhaft bis in unsere Zeit hinein. Ich konnte beispielsweise in Sevilla die steinernen Zeugen dieser Zeit bewundern, aber die Monumente erzählen auch davon, wie die Rekonquista mehr und mehr Spanien bestimmte: Die kirchliche Kreuzzugsmentalität war über Jahrhunderte verheerend. Kriege folgten auf Kriege, Eroberungen auf Rückeroberungen, Habsburger und napoleonische Kriege und Kolonialkriege und weiter und weiter und dann die beiden großen Kriege und – was für Spanien zuletzt so schmerzlich war, der Bürgerkrieg und die Francodiktatur. Immer ließen sich religiöse Führer dazu hinreißen, militärischer Gewalt den Segen zu geben. Ich denke an die vielen großflächigen Darstellungen von Santiago, wie er mit Schwert und hoch zu Ross zur Schlacht gegen die Muslime zieht. Ich denke aber auch an Bischöfe der katholischen Kirche, die die faschistische Diktatur unterstützten, während ein Teil der Kirche im Widerstand gegen Franco war. Summa summarum wage ich die Behauptung: Hätte es all die religiösen Legitimationen nicht gegeben, wären Spanien viele Kriege erspart geblieben. Würden all die religiösen Führer heute ihre Reden am Evangelium orientieren, gäbe es keinen russischen Patriarchen mit seiner offenen Unterstützung für Putin, gäbe es aber ein kirchliches Nein zu militärischem Abwehrdenken, besännen sich die Kirchen selbst zu ihrem gewaltfreien Ursprung, dann würde es keinen Krieg mehr geben. Juden, Christen und Muslime würden wieder in Frieden miteinander leben, wie sie es in Cordoba oder Sevilla taten, Modell auch für gewaltfreies Zusammenleben von Ukrainern und Russen, die sich im gemeinsamen Bekenntnis an die gewaltfreie jesuanische Botschaft finden können. Die katholische Kirche heute – ganz oben mit Papst Franziskus – gibt zum Glück jenen Kurs vor, der sagt: Jeder Krieg ist ein Verbrechen! Ich wage zu behaupten: Wenn heute alle religiösen Menschen die militärischen Denkmuster aufgäben – also auch auf Waffenlieferungen und Aufrüstungen verzichteten – dann hätten wir den Traum vom „ewigen Frieden“ erreicht.
Jesus ist eben kein Revolutionär, der mit der Waffe in der Hand für eine gerechte Sache gekämpft hätte. Im Gegenteil: Seine Botschaft der linken/rechten Backe, der zweiten Meile und der Feindesliebe gilt. Sie ist unbestreitbar. Der Gewaltverzicht Jesu ist integraler Bestandteil des Christentums. Jesus fordert uns in den Seligpreisungen dazu auf, Pazifistinnen und Pazifisten zu sein – selig, die pacem facere, selig die Friedensstifterinnen und Friedensstifter. Selig die Pazifistinnen und Pazifisten!
Danke für deinen Beitrag in Linz- jetzt heißt es weiter machen. Werde mich stark machen dafür und bin für Ideen offen. ❤️*💪