wundervoll heilsam erlöst

ein aufmerksames Hinsehen
löst Blindheit

ein verständnisvolles Wort
löst Ängste

eine achtsame Berührung
löst Verkrampfung

eine liebevolle Umarmung
löst Ausgestoßensein

eine widerständische Tat
löst Ungerechtigkeit

klaus.heidegger, 20. 3. 2023
(zum Johannesevangelium Joh 9)

heilsam wundervoll berührt

Ein kleines Kind geht mit seinem Papa am Gehsteig und stolpert und weint. Der Papa hebt es liebevoll auf und tröstet und nimmt es in die Arme. Ich bin auf dem Weg zum Gottesdienst und denke an das heutige Sonntagsevangelium von der Heilung eines Bettlers, den seine Blindheit zu einem Ausgestoßenen werden ließ.

In einem Park am Rande des Radweges sitzt wie jeden Tag und zu gefühlt jeder Stunde der sichtlich alkoholkranke, verwahrloste und wahrscheinlich obdachlose Mann. Heute sitzt er im wahrsten Sinn des Wortes in seiner eigenen Sch … inmitten der Stadt und doch zum Ausgestoßenen geworden. Ich denke wieder an den Ausgestoßenen in der heutigen Erzählung aus dem Johannesevangelium.

Irgendwo am Rande meines Weges sehe ich, wie sich zwei junge Menschen treffen, wie sie sich freundschaftlich umarmen und in die Augen sehen. Liebevoll. Heilsame Berührung, sinniere ich mit Blick auf so viele Jesusgeschichten.

Auf den Pfeiler der Holzbrücke über den Inn hat jemand seine Verzweiflung mit schwarzer Schrift angebracht. Direkt über dem grünen Inn steht da: „I’ve lost!“ Mein Radweg führt am Trakl-Park vorbei und ich denke an den Poeten Georg Trakl und seine Verzweiflung, in einer Welt voll Krieg zu leben, in der auch seine tiefsten Sehnsüchte nicht in Erfüllung gingen. Die Gedanken an die Jesusgeschichte vom Blinden sind wie eine Folie, mit der ich meine Welt und meine eigene Situation zu verstehen suche.

Die Jesusgeschichten sind voll von liebevollen Berührungen, von denen manche als Wunder bezeichnet werden. Es sind keine Grenzüberschreitungen, sondern achtsame Berührungen, die meist mit einem Hinsehen beginnen. Auch die heutige Perikope beginnt einfach damit: „Jesus sieht den Bettler.“ Er sieht ihn als Individuum, der Hilfe braucht. Meist wird die Blindheit als solche als Not bezeichnet. Jesus sieht aber auch das System, das Kollektiv, das den Menschen zum Ausgestoßenen werden lässt. Blicken wir nach Palästina zur Zeit Jesu und auch noch in die Zeit, als das Johannesvangelium komponiert worden ist, so müssen wir sagen: Sozialhistorisch gesehen gibt es eine Not, die tiefer reicht als der reale Verlust der Sehkraft. Der Blinde im damaligen Kultursystem wird wegen seiner Krankheit zugleich doppelt ausgegrenzt. Er wird als „Sünder“ bezeichnet. Er gilt in einem System, das die Gesellschaft und die Kultur in Reine und Unreine einteilt, als der „Unreine“. Er wird für seine eigene Not verantwortlich gemacht. Man dichtet ihm an, dass er wohl böse sei, sonst wäre er gar nicht mit dieser Notlage von „Gott?“ bestraft worden. Es heißt: Wahrscheinlich sieht ihn Jesus – wie den Blinden Bartimäus und wie die Aussätzigen – draußen vor der Toren einer Stadt oder eines Dorfes. Tatsächlich heißt es im Evangelium gleich mehrmals, dass „sie“ ihn verstießen, auch dann noch, als er schon geheilt ist. „Sie entgegneten ihm: Du bist ganz und gar in Sünden geboren und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus. Jesus hörte, dass sie ihn hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm …“ Jesus durchbricht dieses System gleich mehrfach. Das macht ihn zum Propheten. Die heilend-körperliche Zuwendung zum Blinden, die so detailreich beschrieben wird, geschieht gegen eine strenge Gesetzesauslegung an einem Sabbat. Jesus hätte es in den Augen jener, die das Gesetz im Sinne von Herrschaft interpretierten, gar nicht tun dürfen.

Vor dem Gottesdienst in unserer Gemeinschaft poppt eine WhatsApp-Nachricht auf. Ich erfahre, wo wir uns morgen zur Klebeaktion der Letzten Generation treffen werden. Ja, auch das hat wohl mit dem heutigen Sonntagsevangelium zu tun.

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