Der Befreiung Tirols nachspüren

6. Mai 2023. Warme Regentropfen spüre ich sanft auf den Wangen, die sich anfühlen wie Tränen, die geweint werden wollen. Heute wird an die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft gedacht. Über „Befreiung“ schreibe ich lieber als über Kapitulation. Mit dem Rad fuhr ich zuvor zu den vier wichtigsten Täterorten zur Zeit des Nationalsozialismus in Innsbruck. „ÜB‘ IMMER TREU UND REDLICHKEIT?“ ist an diesen 4 Orten in großen weißen Buchstaben auf den Gehsteig gesprayt worden. Ich merke nicht, dass Passantinnen und Passanten sich von diesem Schriftzug aufhalten ließen – und selbst wenn sie es täten, würde wohl kaum jemand der Vorbeieilenden den Sinn dahinter erfassen. Der Initiator der soeben eröffneten Kunstinstallation, Lucas Norer, erinnert mit diesem Satz an ein Volkslied, dessen Melodie im nationalsozialistischen Rundfunk als Kenn- bzw. Pausenmelodie verwendet worden ist. „Pausenzeichen“ nennt der Künstler sein Projekt, das am Nationalen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus präsentiert wurde. Es wird unter dem Format „gedenk-potenziale“ als künstlerischer Beitrag zu einer neuen Gedenkkultur realisiert. Drei Elemente werden an den vier unterschiedlichen Standorten miteinander kombiniert: Der genannte Schriftzug am Gehsteig; eine Erinnerungstafel am Gebäude, in dem nationalsozialistische Verbrechen ausgeführt worden sind; eine Klangintervention, in der Täter, Opfer oder Zeugen zu Wort kommen. Die erste Station ist in einem imposanten Gebäude direkt gegenüber dem Dom und dem Bischofshaus. Es war der Ort, an dem die Gestapo einquartiert war und mit äußerster Brutalität gegen Menschen vorging, die nicht der Nazi-Linie entsprachen oder ihr widersprachen. Zweite Station war das Landesgericht. In einem Lautsprecher oberhalb des inzwischen nicht mehr genützten Eingangs wird von Menschen erzählt, die als Opfer der NS-Justiz zu Zwangsarbeit, Zuchthaus oder Tod verurteilt worden sind. Auch für mich gänzlich unbekannt als NS-Täterort war eine andere Station gegenüber dem Hauptbahnhof. Wo jetzt das moderne Gebäude des ÖGB am Südtirolerplatz steht, war früher das Polizeigefangenenhaus und die Polizeidirektion. Der vierte Ort schließlich liegt in der Reichenau. Der Gedenkstein in der Rossaustraße hebt sich kaum ab von einem Alteisenlager dahinter und wäre da nicht ein Beet von gelben Narzissen, würde man es wohl gänzlich ignorieren. Vier Jahre lang bis zur Befreiung im Mai 1945 war hier das Arbeitserziehungslager, in dem Tausende Menschen misshandelt und gequält wurden und eine große Zahl ermordet wurden. Abschließend fahre ich nochmals auf den Landhausplatz, der schon seit einiger Zeit zu „Eduard Wallnöfer“-Platz unbenannt worden ist. Die großen Gitter sind aus Anlass der Erinnerung an die Befreiung weit offen. Es fühlt sich gut an, die fünf Tore offen zu sehen. Skater und Tretrollerfahrer können auf dem wellenförmigen Untergrund rund um das Befreiungsdenkmal ihre artistischen Jumps machen. So atmet der Platz keinen Leichengeruch. Die Geschichte hinter dem Befreiungsdenkmal wird den jungen Menschen wohl nicht bewusst sein. „Den für die Freiheit Österreichs Gestorbenen“ steht oben am Triumphtor auf Latein an der Nordseite und auf Französisch, Englisch und Russisch auf der Südseite. Ich nehme mir Zeit die 123 Namen zu lesen, die auf den Schmalseiten des Bauwerks mit Aluminiumbuchstaben angebracht sind. Dahinter stehen Menschen, die zivilcouragiert dem NS-Terror widersagten und dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Ich kenne zu wenige von den Geschichten und nehme mir vor, manche Biographien mir genauer anzusehen. Die Universität Innsbruck hat engagierte Historikerinnen und Historiker, denen die Aufarbeitung dieser Geschichte ein besonderes Anliegen ist, damit die Opfer nicht vergessen werden und zu Anwältinnen und Anwälten für eine Zukunft des „Nie-Wieder“ werden. „Österreich ist frei“, gilt seit dem 8. Mai 1945. Ich verknüpfe damit die Hoffnung, dass nie wieder populistische Verführer mit pathetischen Hassreden auftreten und denke zugleich mit Schaudern an den Auftritt des Möchtegern-„Volkskanzlers“ vor ein paar Tagen in einem Bierzelt in Linz, der sich zugleich als Epigone von Viktor Orban anpreist. „Nie wieder!“

Klaus Heidegger, 7. Mai 2023

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