Wenn ich ein paar Wesensbeschreibungen miteinander vermische, dann kommt eine Stadt und ihre Umgebung heraus, die mich einmal mehr tiefer in das Sein dieser Welt und in die Geschichte und Kultur Europas eintauchen lassen. Ich öffne mich den Eindrücken, die mir Hilfe sein können, tiefer zu begreifen, und erfahre mein Sein und Wollen in den mir unbekannten Lebensräumen. Mein mit Triest wohl vertrauter Freund hilft mir dabei.
Ein kräftiger bis stürmischer Wind aus dem Norden – er soll manchmal so stark sein, dass er den hier lebenden Menschen die Brille vom Gesicht reißt und man sich zumindest eine allfällige Baseballmütze, früher waren es Hüte, festhalten sollte. Auch wir konnten ihn spüren. Er brachte am ersten Tag unseres Hierseins zugleich dicke Regenwolken mit sich, die sich über uns in Fülle entluden, während wir von den karstigen Höhen oberhalb in die Hafenstadt radelten und während sich die Schuhe mit Wasser ansaugten. Ich hatte dann das Gefühl, als würde ich im Wasser waten. Im ausladenden Eingangsportal der Synagoge streiften wir uns die triefnassen Klamotten ab und wärmten uns im nahen Café San Marco, in dem James Joyce viele Jahre seines Lebens Stammgast war. Der Wind ist eine Spezialität dieser Stadt und hat einen eigenen Namen bekommen. „Bora“. In mir wird das Bild einer Frau bleiben, die im Sturm hinter einem Elektrokasten Schutz und Halt suchte und wartete, bis ihr ein junger Mann helfen konnte, mit ihr über den Zebrastreifen zu gehen, ohne vom Wind umgeworfen zu werden. Ich ging bis ans Ende der Mole am Hafen und hielt meine Brille fest und ließ mich von der Gischt der vom Wind aufgewühlten Wellen anspritzen. So konnte ich jedenfalls auch in der Stadt Kräfte der Natur spüren.
Oberhalb der Hafenstadt, die nicht die unübersichtliche Größe der ganz großen Hafenstädte wie Genua, nicht den touristischen Hype wie die nahe Tourismusmhochburg Venedig oder auch nicht die nie endenden Satellitenstädte anderer Großstädte aufweisen, oberhalb der hellen senkrechten Kalkfelsen beginnt der Karst mit mediterraner Vegetation, dicken Laubwäldern und Sträuchern darunter. Es war ein Sonntagvormittag, als wir an den hell-weißen Felsen oberhalb des Meeres entlangfuhren, wo ein junges Paar mit Eleganz die 7+Stellen der überhängenden Boulderfelsen erkletterte. Gelb blühten Ginstersträuche und weiß der Holunder. Ich mag die Natur, die Fauna und Flora, das Zwitschern der Vögel, den Duft der Pflanzen und immer wieder berührte ich einen Stein oder ein regennasses Blatt. Die Regenfälle der letzten Wochen ließen jetzt Mitte Mai alles noch grüner erscheinen und ich dachte an die Dürre in den Sommermonaten des letzten Jahres. So verliere ich kein schlechtes Wort über den Regen und seine Nässe, auch wenn es sich seltsam anfühlt, in der Mitte des Mais so gekleidet zu sein – mit Kappe und Primaloftjacke – wie bei einer Skitour daheim mitten im Winter. Die Steine auf den Trails waren rutschig nass und auf den Forstwegen hatten sich Wasserlachen gebildet, in deren Bräune sich die grauen Regenwolken spiegelten.
Im Hinterland von Triest, im Karst und in den Wäldern, in denen Kriegsherren auf Friedenskonferenzen Grenzen zogen, um Herrschaftsgebiete einmal so, ein andermal so abzustecken, dort gibt es seit vergangenem Sommer ein riesiges Waldgebiet, wo Bäume nicht grün sind, sondern als schwarze Holzgestalten wie mahnend die verkohlten Stämme und Äste in den Himmel strecken. Im Kontrast zu den schwarz-braun-verkohlten Stämmen sind die weißen Kalksteine am Boden. Bald ein Jahr ist es her, seit hier viele Tausend Hektar Wald ein Raub der Flammen wurden – wie in vielen Ländern Europas, als die Böden von wochenlanger Hitze verdorrt waren. Die Mountainbike-Route von Triest in Richtung Görz führte uns mitten hindurch, hoch hinauf auf einen Hügel. Weit hinten war die Weite des Meeres und im Osten ragten die Bergketten Sloweniens heraus, im Westen die Bademetropolen von Caorle, Jesolo und Bibione. Görz lag in einer grünen Ebene unterhalb. Über die Grenze zwischen Italien und Slowenien sind wir durch dicke unberührte Waldlandschaft und zwischendrin kleine slowenische Dörfer gekommen. Irgendwo im Wald zwischen den Sträuchern markierte ein Schild den Grenzübergang zwischen Italien und Slowenien. Es sind die Wälder, in denen in den beiden verheerenden Weltkriegen Menschen aufeinander schießen mussten, damit Länder ihre Grenzen erhielten, die heute ihre Bedeutung verloren haben.
Eine dritte Wesenseigenheit von Triest ist die Erinnerung an bedeutsame Literaten des vergangenen Jahrhunderts, die hier lebten und großartige Werke schufen. Am meisten fühle ich mich mit James Joyce verbunden – und es stimmt, was mein literaturkundiger Freund fast kritisch bemerkte: Die literarischen Werke versuche ich erstens immer auch zu lesen mit Blick auf die Biographien, die hinter den Autorinnen und Autoren stehen, und zweitens mit Blick auf mein eigenes Erfahren und Erträumen. Unser Campingplatz lag dann auch passend gleich am Beginn des Rilke-Weges, welcher der Küste entlang zu jenem Schloss führt, wo Rilke durch seine Kunstmäzenin seine Schaffenskraft entfalten konnte. In den Werken von Joyce und Rilke und anderer Dichter verdichtet sich auch das, was Triest einzigartig macht und in der Historie dieser Stadt seine Wurzeln hat. Die Geschichte der Stadt und damit ihrer Bevölkerung ist geprägt von Begegnungen und Verschmelzung und Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Ethnien und vor allem auch divergierenden Machtinteressen. Die Stadt hat den Stempel einer 500-jährigen Habsburger-Geschichte. Mit Triest verwirklichte sich das Habsburger-Reich seinen Traum von einem eigenen Hafen am Meer. Im Schloss Miramari und den weiten Gartenanlagen ebendort konnten wir noch den imperialen Charakter des Habsburger-Reiches und die traurige Geschichte vom habsburgischen Mexiko-Kaiser Maximilian I. und seiner Frau Charlotte nachempfinden. Welche Irrläufe kennt doch die Geschichte der Menschheit, die nur im Wahnsinn enden können! Der Irrlauf heute hat wohl Namen wie Klimawandel und Aufrüstung. Die Paläste rund um den zentralen Platz in Triest demonstrieren noch heute die Macht und den Wohlstand, die die Habsburger hier zur Schau stellen wollten. Triest könnte heute zugleich ein Lehrbeispiel für die Zukunft sein: Für eine Freiheit ohne die Bevormundungen durch Kaiser und König, wo die Menschen in Freiheit über ihre Geschicke entscheiden. Nie mehr soll es sein, dass Herrscher ihre Macht gegen Menschen missbrauchen, dass Menschen sich vor Menschen verstecken müssen, wie wir im Bunker vom Schloss Duino nachempfanden. Und in all dem die Kirchen und Religionen? Auch hier gilt es wohl, die Ambivalenzen zu sehen. In meiner Erinnerung wird bleiben der Besuch einer gotischen Kirche – ihre Anfänge reichen zurück bis in die Langobardenzeit – in der in der Apsis grüne Pflanzen um Karststeine wachsen und wo dazwischen ein wenig von jenem Wasser rinnt, das in Fülle zauberhaft aus Karstquellen fließt, die sich vor der Kirche befinden.