4.30 Uhr. Vereinzelt sind in Innsbruck Nachtschwärmer:innen auf ihrem Nachhauseweg. Zu viel Alkohol und die Stille der Nacht machen ihre Stimmen laut. Der Fast-Vollmond leuchtet hell über der Nockspitze. Der Inn rauscht vom Schmelzwasser der Berge und spiegelt das Mondlicht wider. Weit drüben, wo der Himmel bereits morgenrot wird, ist das heutige Ziel: Bettelwurf, mit 2725m fünfthöchster Berg des Karwendels und lange Zeit mein Hausberg. Am Radweg quert ein Dachs meinen Weg. Seine Augen leuchten erschrocken vom starken Licht meiner LED-Stirnlampe zurück . Die Tour des heutigen Tages beginnt mit einer eineinhalbstündigen Fahrt mit dem Rad von Innsbruck über Thaur und schließlich sehr steil das Halltal hinein. 6.00 Uhr am Bettelwurfeck. Viereinhalb Stunden ist für den Klettersteig bis zur Bettelwurfhütte angeschrieben und dann sollen es laut offiziellen Angaben nochmals viereinhalb Stunden für die Überschreitung sein. Heute habe ich Steigeisen und Eispickel dabei und die schweren Schuhe an. Das Klettern am Steig fällt damit schwerer. Meine Companera – ein passendes Wort für den tieferen Sinn des heutigen Festtages – ist zuversichtlich, dass wir die Bettelwurfüberschreitung schaffen werden. Meine Skepsis ist groß – zumindest so groß wie die Schneefelder, die ich gestern vom Tal aus an den Flanken des Bettelwurfmassivs mit Respekt sah. Flink geht es den Klettersteig hinauf und die Bettelwurfhütte im Morgenlicht ist in knapp drei Stunden vom Bettelwurfeck erreicht. In Absam unten werden sich gerade die Vereine für die Fronleichnamsprozession bereit machen. Viele Jahre bin ich da dabei gewesen und habe mit Dankbarkeit und Sehnen daran gedacht, dass sich Göttliches in Irdischem manifestiert, und während der Prozession blieb zugleich auch Zeit, um auf den Bettelwurf und seine Nachbargipfel zu schauen und die im Juni dahinschwindenden Schneereste zu prüfen. Die ersten paar hundert Höhenmeter beim weiteren Aufstieg sind noch problemlos. Auch das Wetter scheint zu halten. Dann aber beginnen die Schneefelder immer mehr zu werden. Man kann an manchen Stellen nur mehr erahnen, wo zwischen den Felsbändern und Verschneidungen der Steig gehen könnte. Zum Glück entdecken wir dann doch immer wieder die rot-weiß-roten Markierungen. Die Schneefelder strahlen Kälte aus und es bleibt ein mulmiges Gefühl, über den Abgründen statt Fels den zum Glück etwas aufgeweichten Schnee unter den Füßen zu haben und zu hoffen, dass eine nächste Verschneidung schneefrei sein wird. Jedenfalls bin ich um meinen Pickel froh. Im Übergang zwischen Schneefeldern und Fels haben sich Schneemäuler mit Hohlräumen zwischen Altschnee und Fels gebildet und einmal müssen wir in so eines wie in einen Eiskasten hinein- und hinausklettern. Knapp vor zehn Uhr ziehen dann vom Vomperloch Wolken auf und Hagelkörner prasseln auf die Kletterhelme. Hörten wir davor die Böller, die anlässlich der Fronleichnamsprozessionen unten im Tal immer wieder schossen, so kommt der Donner nun von einem Gewitter. In einer AV-Beschreibung unserer Route heißt es: „Aufgrund der Exponiertheit besonders hohe Gefahr bei Gewittern! Als Tagestour sehr lang; bei Schneelage ist die Überschreitung nicht zu empfehlen (gefährlich!). Es gibt viele ungesicherte Passagen, absolute Trittsicherheit nötig!“ Für uns heißt es aber nun: Rückweg nicht mehr möglich. Die Alustecken surren. Es gilt, möglichst schnell den Westgrat mit seinen Türmen und Kanten hinauf auf den Bettelwurf zu klettern und von dort dann den Normalanstieg hinunter. Bald haben sich die Hagelkörner wie Tausende Rollkügelchen auf die Felsen gelegt. Der Blick nach unten zeigt, dass die Felswände weiß wie nach einem Schneefall geworden sind. Es ist eiskalt geworden und die Hände fühlen sich klamm an. Obendrein zieht Nebel auf. Meine Begleiterin bleibt trotzdem flink wie eine Gämse – die müssen ja auch bei jedem Wetter über die Felsen springen – und ich versuche, irgendwie das Tempo zu halten. Jedenfalls heißt es in diesem Gelände sehr aufzupassen. Der Gipfel scheint heute nicht daher zu kommen. Das Kreuz des Großen Bettelwurfs ist in dickem Nebel. Und dann beginnt der Abstieg – ebenfalls nicht so leicht wie erhofft. Ein paar Mal verschwinden die Sicherungsseile unter den steilen Schneefeldern und dann weiß man nicht sofort, wo sie wieder rauskommen. Zum Glück hat der Hagel aufgehört. Die beiden Bettelwurfgipfel bleiben im Nebel verschwunden. Erst unten, wo dann der Steig in die Latschen mündet, machen wir die erste Essens- und Trinkpause. Es kommt nun sogar die Sonne heraus. Die Finger fühlen sich klamm an und die Fingerkuppen prickeln noch. Geschafft. Für eine Hütteneinkehr nehmen wir uns keine Zeit. Vom Süden und vom Westen her ziehen Wolken auf, die wiederum ein Gewitter mitbringen könnten. Der Abstieg hinunter ins Tal ist dann wie ein Spaziergang. Beide sagen wir allerdings: Solange die Schneefelder noch so deutlich sind, kann von einer Besteigung des Bettelwurfs momentan nur abgeraten werden – oder gar von der Überschreitung – und nicht nur bei Gewitter und Hagel. Bei meinen vielen Besteigungen des Bettelwurfs bleibt die heutige wohl jene mit dem höchsten Stressfaktor – und daher war es diesmal so wichtig, nicht alleine unterwegs zu sein. Darin liegt wohl auch wieder eine Grunderfahrung des heutigen Fronleichnamsfestes: Im geteilten Käsebrot, das zwar nicht in einer Monstranz sondern im Rucksack aufbewahrt worden ist, nach einer gemeinsam bestandenen Unternehmung zu spüren: Im Menschlich-Irdischen lässt sich Göttliches finden.