1235 Kilometer als Zweierteam und mit eigenen Kräften: Stimmungsbilder einer Radreise von Innsbruck nach Kopenhagen

Tag 1: Von Innsbruck nach Pfaffenhofen an der Ilm, Samstag 24. Juni 2023

4.00 Uhr morgens. Etwas regeneriert von den Berghochtouren der letzten Tage geht es nun dorthin, wo die Ebenen dominieren werden. Meine Nichte treffe ich bei der Wallfahrtskirche in Absam. Ein passender Ort, um gemeinsam die Reise, die ihre Idee war, zu beginnen. Vor zwei Jahren war ihr Wunschziel Rom, letztes Jahr Paris und in diesem Jahr noch etwas weiter nach Kopenhagen. Motiviert und mit Spannung geht es los. Eine Radsatteltasche und ein kleiner Rucksack genügen uns. Minimalgewicht ist wichtig. Wenn es doch auch nur gelänge, seelisch Schweres so leicht beiseite zu lassen! Ein fernes Ziel ist mit viel Unbekanntem und Unwägbarem verbunden – und mehr noch als das Ziel zählt jeder Kilometer dorthin selbst. Bis Bad Tölz kenne ich wohl jeden Kilometer von vielen Rennradfahrten der letzten Jahre und verknüpfe die Strecke mit Gedanken und Gefühlen von früher. Das Einradeln bis Jenbach im leichten Nieselregen lässt noch zu, dass sich ein paar Tränen mit jenen vom Himmel vermischen. Die saftige Steigung von Kasbach hinauf nach Maurach wärmt auf. Die Strecke entlang des Achensees ist ein Genuss für die Augen. Auf der Achenpassstrecke sind um diese Zeit wenig Autos unterwegs. Erst am Sylvensteinstausee nach vier Stunden machen wir eine kurze Rast – so als müssten wir noch etwas alpine Luft des Alpenparks Karwendel für die nächsten Tage auftanken. Die Radfahr-App lotst uns auf Radfahrwegen mitten ins Zentrum von München. Knapp 8 Stunden sind seit dem Aufbruch in Innsbruck vergangen. Allerdings weiß sie nicht, dass dort gerade heute Christopher Street Day ist und die Pride Parade mit ihren geschmückten Wagen unseren Weg kreuzt. So werden wir irgendwie Teil von diesem rauschenden Fest. Tausende sind regenbogenbunt auf der Straße, Tausende zeigen einander und öffentlich: So, wie meine Natur ist, so ist es gut, egal ob hetero-, bi-, homo-, transsexuell oder queer – es ist gut! Sind das auch nicht die ersten Worte der Bibel: „Und Elohim sah, dass es gut war!“ Vorbei soll die Zeit jeder Diskriminierung sein! Der Marienplatz ist voll von regenbogenbunten Farben. Mit diesen bunten Eindrücken radeln wir aus der Metropole heraus, vorbei an der Universität mit Dankbarkeit für das Zeugnis der Weißen Rose. In der Innenstadt sind die breiten Straßen gesperrt – für uns Radfahrende eine besondere Gelegenheit.  Auf den kommenden Kilometern werden die fast 1300 Höhenmeter und 205 Kilometer in den Beinen spürbarer. Pfaffenhofen an der Ilm wird der erste Etappenort. Mit Hilfe von booking.com lässt sich eine preiswerte Unterkunft schnell finden – ein Tagungshotel am Rande der Stadt. Wir machten – bis auf das Endziel in Kopenhagen, keine Reservierungen und damit auch keine Vorauszahlungen. Das ermöglicht eine gewisse Spontaneität und ist freilich mit Spannung verbunden, wo wir eine Übernachtungsmöglichkeit finden werden. Eli ist darin geschickt und wir haben eine gewisse Arbeitsteilung wie bei den letzten Fernreisen. Ich gebe Windschatten und sie übernimmt die Quartiersuche.

Tag 2: Von Pfaffenhofen an der Ilm nach Bayreuth, Sonntag 25. Juni 2023

Nebeldampfende Luft steigt aus den Feldern und Morgenfrische liegt über ihnen. Die goldene Morgensonne zaubert die Umrisse der Radfahrenden auf das Gold der Kornähren. Um diese frühe Zeit knapp nach fünf sind sonst nur Hasen unterwegs, die Eli gedankenversunken einmal mit einem Reh verwechselte, die über die Straße huschen, und Vögel zwitschern im Stereoklang links und rechts aus den Kornfeldern und Gebüschen. Sonntag ist und in einem der kleinen Dörfer Bayerns, die oft aus irgendwelchen Verbindungen mit Ober oder Unter oder Berg oder Heim beginnen, findet eine Prozession statt. Es ist das Wochenende der Sommersonnenwende und Johannis-Tag-Feiern. Ingolstadt am Sonntagmorgen schläft aber noch. Wohl jedes 2. Auto mit der Nummerntafel, die mit IN beginnt, ist ein Audi. Die mittelalterlichen Gemäuer interessieren mich aber ohnehin mehr als die High-Tech-Luxuskarossen aus Ingolstädter Fabrikation. Eine XXL-Dinosaurier-Plastik auf unserem Weg – eine Einladung zum Besuch des Dino-Parkes dort – ist wie eine Symbolfigur für meine zivilisationskritischen Gedanken. Aus einer Perspektive frisst das Dino mit seinem Maul die Autos darunter. Die Stadt Beilngries lädt zum Pausieren ein und zum Besuch der Kirche St. Walburga. Neben der Kirchenpatronin Walburga mit den Attributen von Krone, Hirtenstab und Buch sind zahlreiche weitere barocke Statuten von bedeutsamen Frauengestalten der Kirchengeschichte – die Hl. Ottilie mit Hirtenstab und Buch, die Hl. Gunthild, die Hl. Katharina und gleich mehrmals die Hl. Margareta, die ihren Drachen wie ein Kuscheltier liebevoll im Arm trägt und nicht brutal ermordet wie der Hl. Georg, der antithetisch gegenüber als kriegerisch-männlicher Held dargestellt wird. Das Aufgebot weiblicher Heiligengestalten konterkariert so positiv eine patriarchal-kriegerische Kirchengeschichte. Nicht all die schmucken Ortschaften mit Fachwerkhäusern und Giebeldächern und gepflasterten Kopfsteinstraßen – die für Rennräder nicht so ganz geeignet sind, dafür aber zum Verweilen einladen – kann und will ich hier aufschreiben. Dazwischen wieder viel Landschaft und die Fahrt entlang eines Kanals mit Seerosen darauf. In Neumarkt in der Oberpfalz findet eine Autoparade statt. Autos werden bestaunt wie religiöse Kultobjekte, die Verehrung finden. Die Pride Parade in München und die kleine Dorfprozession waren mir da schon lieber! Weiter geht es. Hinaus durch einen Torbogen. Einmal gibt ein anderer Rennradfahrer etwas Windschatten, ein andermal treffen wir auf einen alten Mann, der uns erklärt, wie eine gigantische Autobahnbrücke abgebaut wird und eine neue daneben aufgebaut wird. Das Fotographieren von dieser Baustelle ist seit vielen Jahren sein Hobby geworden und er hat sichtlich Freude daran, uns darüber zu erzählen. Auch solche Zufallsbegegnungen und Zeitnehmen dafür machen das Radreisen wertvoll. Oberpfälzer Hügelland und am Rande des Fichtelgebirges, kleine Tälchen und Orte, wo Menschen gemeinsam den Johannis-Sonntag feiern, Creußen und ein Brunnen ebendort mit einer Doppelfigur, die Sehnsucht nach erfüllter Gemeinschaft in lesender Verbundenheit widerspiegelt. Bis Bayreuth werden es an diesem Tag jedenfalls wieder knapp über 200 Kilometer und fast 1800 Höhenmeter. Das Hotel wird schnell gefunden. Mit den Rädern fahren wir ins Zentrum, wo wieder eine Feststimmung an diesem Sonntagabend herrscht, essen Pizza, bummeln durch die Stadt und ich bleibe überrascht stehen und staune, wenn ich einem Kunstobjekt begegne: wie jenem blumenhaft verknoteten Revolverlauf, der in der Abendsonne rot leuchtet – dabei denke ich auch an die Unruhen in Paris – oder einer Bronzestatue von Hridlicka von einem Mann, der in seiner ganzen existenziellen Befindlichkeit seine Hände weit in dem Abend-Himmel empor streckt.

Tag 3: Von Bayreuth nach Erfurt, Montag, 26. Juni 2023

Frühmorgendlicher – das heißt knapp nach 5.00 Uhr – Aufbruch. Wetter passt. Stimmung passt. Lang wird die Etappe werden und gespickt mit vielen Höhenmetern und zugleich einem attraktiven Etappenziel. KI-berechnet wird der Weg möglichst ohne Umwege aber dennoch auf Radwegen, Radfahrstreifen und Nebenstraßen über 150 Kilometer und knapp 2000 Höhenmeter führen. Zunächst wieder Naturerlebnis von Hopfenfeldern, Getreidefeldern, Wäldern. Die Stadt Kronach überrascht mit ihrem mittelalterlichen Ensemble und einer Kathedrale, die geöffnet ist. Entlang der Straßen durch die Dörfer Thüringens hängen an den Straßenlaternen Hunderte Wahlplakate. Fast alle sind sie von der AfD mit ihren plump-populistischen Sprüchen. Gestern erst waren Landkreiswahlen und die AfD erreichte die meisten Stimmen. Merklich fahren wir durch ein Gebiet, das wirtschaftlich von der Wende nicht profitiert hat. Passend zur fühlbaren Vergangenheit überholt uns ein Trabi aus DDR-Zeiten. In kleinen Ortschaften sind viele Häuser unbewohnt und gammeln vor sich dahin. Die wenigen Menschen auf den Straßen sind fast ausschließlich im Pensionsalter. Wir finden eine Bäckerei, Geschäfte gibt es sonst nicht, in der ich den Akku des Handys laden kann, um das Navi weiter zu benützen, und während des Kaffees reden wir mit der Brotverkäuferin. Das Design des Ladens erinnert an DDR-Zeiten. In der halben Stunde kommt kaum ein Mensch herein. Viele seien abgewandert, erzählt uns die Frau. Hinauf geht es ein kleines Tal mit altem Eisenindustrie-Ambiente. Rund um die Stadt Lauscha wiederum dominiert Glasmanufaktur. Ein Christbaumkugel-Outlet und ein großer Tannenbaum mit hunderten goldenen Glaskugeln geschmückt stehen für diesen Ort. Die höchste Erhebung führt auf 828 Meter – dann wieder steil hinunter und gleich wieder hinauf und hinunter und hinauf und hinunter usw.  Irgendwo passieren wir die Linie, die damals Europa und besonders Deutschland trennte, irgendwo überqueren wir die vielspurige A-4-Autobahn, in dem Massenverkehr dem Klimakollaps entgegen braust und lärmt und ich denke mit Hoffnung an meine Gleichgesinnten der Letzten Generation und der Scientists for Future, die sich heute wieder zu einer Aktion in Innsbruck trafen. Die Übernachtung im B&B-Hotel passt zu einer Großstadt-Übernachtung und am Abend bleibt noch Zeit für einen Spaziergang zur mächtigen Kathedrale, vor der wir vegetarische Kebabs essen, und für einen Besuch der Aussichtsterrasse über der Stadt. Am großen Platz geht eine Demonstration von Menschen vorbei, die mit ihren Sprüchen an die Kickl-FPÖ und Verschwörungstheorien erinnern. Das passt jedenfalls zu den AfD-Plakaten, die ich tagsüber sah. Allerdings nehmen sie auch Friedensfahnen für sich in Anspruch. Ein kleines modernes Kreuz in der Nische eines alten Klosters nehme ich als Stimmungsbild am Ende des Tages mit. Es trägt schlicht den Titel „Menschenkreuz“. Ein Mensch in seiner ausgestreckten Existenz, verwundbar und zugleich bereit, mit ausgebreiteten Armen zu umarmen und die Fülle gnadenhaften Lebens zu empfangen. Garmin-Resultat: 152 Kilometer und 1966 Hm.

Tag 4: Von Erfurt nach Bad Harzburg – Dienstag, 27. Juni 2023

Die Kathedrale von Erfurt strahlt im Morgenlicht. 5:30 Uhr. Das Rad-Navi zeigt die schnellen Radwege hinaus auf’s Land. Zunächst ist die Gegend noch flach. Der inzwischen schon gewohnte Anblick von Getreide- oder manchmal auch Rübenfeldern, Windpark-Anlagen, Baumreihen, Landstraßen fast ohne Verkehr, manchmal eine Ortschaft, tiefblauer Himmel mit malerischen weißen Wolken. Dann aber beginnt es gebirgiger zu werden. Eine Tafel zeigt an: „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 12. November 1989 um 7:30 Uhr geteilt.“ Nationalpark Harz. Gespenstisch mutet der Wald mit den großen Flächen abgestorbener Fichten an. Ein ursächlich verbundenes Zusammenwirken von Klimawandel, Dürre, Fichten-Monokultur und Borkenkäfer hat dazu geführt, dass Zweidrittel des Fichtenbestandes im Harzgebirge abgestorben sind. Die toten Gerippe von Bäumen wirken bizarr. Im Nationalpark setzt man darauf, dass sich der Wald von selbst regulieren wird. Es wird lange dauern, aber zwischen den abgestorbenen Fichtenbäumen werden sich neue Bäume behaupten können, die besser den Lebensbedingungen im Harz angepasst sein werden. Das Totholz wiederum könne Lebensraum für viele Tiere bieten. Das Gebirge wird heute seinem Ruf, extreme Wetterbedingungen zu haben, gerecht. Starker Wind führt dazu, dass ich selbst bei Abfahrten mit hohem Puls kräftig in die Pedale treten muss. Blocksberg – das erinnert mich an die Geschichten von Bibi Blocksberg, einer Hexe, die mutig und verwegen allerlei Abenteuer durchlebte. Meine Kinder liebten ihre Geschichten. Nun kann auch ich mit diesem Namen eine Naturlandschaft verbinden. Auf einer Passhöhe steht ein alt gewordenes Gasthaus mit Schildern, die von Vergangenheit erzählen. Der Wind pfeift. Das Gasthaus bietet „Königliche Riesen-Windbeutel“ an. Mehr und mehr erkennen wir, dass das geplante Etappenziel bei diesen Bedingungen sich nicht erreichen lässt. Am Fuße des Harzgebirges, in Bad Harzburg, beenden wir die Etappe und suchen ein Quartier, das wir in der Pension „Fernblick“ beziehen. Die Lokalität passt so gut zu diesem Ort, in dem Pensionistenpaare zwischen alten Pensionen und Hotels im Stil vergangener Jahrhunderte spazieren oder mit müdem Blick die beiden Menschen sehen, die mit ihrem sportlichen Radfahrdress so gar nicht dazu passen. Sie haben heute zwar nur 135 Kilometer getreten, dafür aber auch 1572 Höhenmeter und das mit sehr viel Gegenwind.

Tag 5: Von Bad Harzburg nach Lüneburg

Wieder knapp nach 5.00 Uhr lassen wir die in die Jahre gekommene Pension hinter uns. Der Wind und Regen von gestern haben aufgehört. Die Routenplanänderung fühlt sich gut an. Es werden ab nun weniger Höhenmeter werden. Als erster Höhepunkt der Tour und Frühstücksort liegt in 50 Kilometer Braunschweig vor uns. Die Stadt ist größer und schöner als erwartet. Am Stadteingang überrascht ein Hochhaus im Hundertwasserstil. Im Zentrum ist ein mittelalterliches Ensemble mit einer mächtigen Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert, einer Burg und Fachwerkhäuser. Dann wieder endlose Landschaften. Vormittags ist der Körper aber ohnehin noch mit sehr viel Energie gefüllt und die Kilometer fühlen sich gut an. Der Marktplatz in der niedersächsischen Stadt Gifhorn mit Fachwerkhäusern und dem mittelalterlichen Rathaus bietet sich als nächster kurzer Rastplatz an. Dann wieder Radwege und Radfahrstreifen. Die Radwege sind mit weißen Tafeln und grüner Schrift gut markiert, doch verlassen wir uns lieber auf das Rad-Navi. Der Garmin-Computer zählt die Radkilometer hinauf. Bei diesen Langdistanzen zählt nicht die Durchschnittsgeschwindigkeit, die auf den Tag verteilt inklusive aller Pausen, Besichtigungen und Einkaufsstopps sich bei 16 km/h bewegt. Im Flachen, wenn der Wind nicht stark ist, versuche ich ein Tempo um die 25 km/h zu halten. Am Rande der Radwege stehen Schilder, die vor dem Eichenprozessionsspinner warnen. Auch da wirkt sich der Klimawandel aus. Die zunehmende Wärme führte zu einer massenhaften Zunahme eines früher seltenen Insekts. In Uelzen machen wir einen kleinen Umweg zu einem Bahnhof, der von Hundertwasser umgestaltet worden ist und trinken in Hundertwasser-Atmosphäre Kaffee und ich lade den Akku im Hundertwasser-Warteraum und denke an meine Jahre in der Löwengasse in Wien zurück. Lüneburg überrascht mit einer großen mittelalterlichen Altstadt mit gotischen Backstein-Giebelhäusern. Einige Gebäude stehen schief, weil es in der Nähe einen Bergbau gab. Booking-com macht’s möglich, rasch ein passendes Quartier in einem Einfamilienhaus zu finden, das sogar ADFC-zertifiziert ist, also vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub ausgezeichnet worden ist. Mit Stadtbesichtigungstour, Abendessen beim „Alten Kran“ am Hafen und Einkaufen im Supermarkt für das Frühstück ist der Abend wieder schnell vorbei und wird um 4:30 Uhr durch das Weckerläuten beendet werden. Kurz noch ein Blick auf den Garmin: Im Anstieg 730 Hm und 176 Kilometer.

Tag 6: Von Lüneburg bis Fehrmann

Mit der KI-Stimme im Ohr und GPS-gesteuert geht es auf Fahrradwegen wieder ins offene Land hinaus. Die Tagesetappe dürfte – so es mit dem Wind klappt – gut schaffbar sein. Trödeln ist allerdings dennoch nicht drinnen. Wieder sind es Landstraßen mit wenig Verkehr, wieder sind es Getreidefelder oder Wälder. Irgendwo queren wir die Elbe auf einer langen Brücke. Nach 90 Kilometern erreichen wir Lübeck, eine Großstadt, die sowohl von ihrem Gesamteindruck als auch von einzelnen Kostbarkeiten jedenfalls nicht einfach ignoriert werden kann. Im historischen Zentrum hat sich Backsteingotik voll entfaltet. Zwei Kirchen sind ganz besonders. In der großen romanischen Kirche St. Peter gibt es nur ein Kunstwerk, das dafür den ganzen weißen Raum füllt. Es ist ein Altarkreuz von Arnulf Rainer. Der Maler hat auf weißem Holzkreuz noch mit schwarzer Farbe ein weiteres Kreuz gemalt, das zugleich die Form eines Schmetterlings hat, auf dem der schwarze Korpus von Christus ist. Im Kirchenraum mit seinen weißen Wänden und weißen romanischen Säulen und weißen Decken und weißen Rundbögen, zwischen denen leichte weiße Tücher hängen, kann sich die Seele frei fühlen, kann eine Kirche gefühlt werden, die frei ist aufzubrechen und den Glauben ohne den Ballast einer Vergangenheit, die nicht gut ist, stets neu finden. Die zweite große Kirche, die Marienkirche, hinter dem Platz mit zahlreichen Postkartenmotiven, scheint die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden zu haben. Eine wunderbare gotische Decke mit spielend leichten Wandmalereien überrascht den Besucher. Durch einen mächtigen Backsteintorbogen führt unser Weg in die Naturlandschaften hinaus. Noch liegen 100 Kilometer vor uns. Die zweite Tageshälfte ist erfahrungsgemäß immer anstrengender. Da kann dann schon eine Stelle im Nacken zu zwicken beginnen und das Treten wird mühsamer. Ein besonderer Moment ist dann die Ankunft an der Ostsee. Allerdings möchte ich in diesem Ort wohl nie verweilen. Am Strand sind die für den Norden typischen Strandkörbe. Im Meer ist niemand. Das Wasser fühlt sich warm an. Darin schwimmen Aberdutzende Quallen. Gestern stand ganz klein links oben in der Bildzeitung, dass sich die Nordsee um 5 Grad erwärmt habe. Mit dem baltischen Meer wird es wohl auch nicht anders sein. Dann bin ich wieder etwas wütend auf die vielen Autos, die hier dem Strand entlangfahren, dann bin ich dankbar, dass wir mit unseren Rädern ein anderes Statement verkörpern. Bevor wir endgültig an unserem Etappenort ankommen, können wir über eine spektakuläre Brücke von einer Halbinsel auf die andere wechseln. Garminblick am Abend: 182 km und 980 Hm.

Tag 7: Von Fehrmann nach Kopenhagen, Freitag 30. Juni 2023

Um 4.00 Uhr klingt der Wecker. Die letzte Etappe beginnt. Heute wird wohl nichts mehr schief gehen. Bis zur Fähre, die uns auf die erste dänische Insel bringen wird, sind es nur 7 Kilometer. Wir sind die einzigen Radfahrenden. Das Fährschiffe wird gefüllt mit Lkws, neben denen unsere Räder zerbrechlich und unbedeutsam wirken – wie eine Mücke neben einem Elefanten. Die Sonne ist über dem baltischen Meer aufgegangen. 45 Minuten dauert die Überfahrt nach Rodbyhavn. Eine kleine Brücke führt zur nächsten Insel und dann schließlich eine über 3 Kilometer lange Brücke auf jene Insel, auf der Kopenhagen und ihr Umland liegen. Allerdings geht es von dort noch gefühlt 100 Kilometer wellenförmig immer gerade aus. Von Beginn an weht ein kräftiger Nord-West-Wind, der energiemäßig passt. Das Westliche vom Wind ist angenehm, das Nördliche bremst immer wieder ab. Meist sind links und rechts der geraden Strecke, die wir auf einem Radfahrstreifen nehmen, Getreidefelder, hin und wieder ein kleines Dorf und schon nahe bei Kopenhagen ein Meeresblick. Entlang von modernen gläsernen Hochhäusern zieht es uns in die Stadt hinein. Die heutige Etappe: 154 km und 678 Hm. Ziel nach 1235 Kilometern und rund 8400 Höhenmetern erreicht. Kopenhagen. Wir haben das Ziel als Team erreicht, mit eigenen Kräften – vor allem aber mit einem starken Willen und Durchhaltevermögen. Das zählt im Leben. Dafür bin ich sehr dankbar. Unser Zielfoto machen wir bei dem wohl bekanntesten Fotomotiv von Kopenhagen: der bunten Häuserzeile am Nevhavn. Der Tag klingt aus am weitläufigen Rathausplatz mit den repräsentativen Backsteinbauten. Der Gegensatz zum Abend in dem Kurort, in dem ein paar Rentnerpaare unterwegs waren, und dem samstagabendlichen Treiben von Abertausenden jungen Menschen, die gestylt und meist in ihren Peergroups auf ihrem Vergnügungsabenteuer sind, könnte wohl nicht größer sein. Kopenhagen. Das Ziel ist erreicht – und doch war eigentlich der Weg und jeder einzelne Kilometer davon das Ziel.

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