Gipfel-, Seen-, Hütten- und Jöcherhüpfen in der Stubaier Gletscherwelt

Schaufeljoch – Hildesheimer Hütte (2900 m): 1,41 km, Abstieg 230m

Bereits in den Wintermonaten wirkt das Stubaier Gletscherskigebiet wie eine brutale Entfremdung vom Natürlichen. Jetzt im Sommer sieht die zerstörte Landschaft wie eine Industrielandschaft aus. Sommerskigebiet ist es ohnehin schon lange nicht mehr. Die hochalpine Bergwelt und die verbliebenen Reste des Gletschers wurden mit Technik hergerichtet für das, was dem Massenmensch Spaß machen soll. Wo sonst wilde Natur ist, sind nun planierte Pisten mit künstlich wirkendem Bewuchs, sind gigantische Seilbahnstützen tief in den Gletscherboden gebohrt. Auch wir nützen diese Technik und lassen uns mit der Gletscherbahn bis auf das Schaufeljoch befördern. Nach einer kurzen Einkehr in der Gletscherkapelle geht es entlang des mit weißem Vlies abgedeckten Gaiskarferners und einer Seitenmoräne hinab zur Hildesheimer Hütte. Bei Hildesheim denke ich an meine letztwöchige Rennradfahrt nach Dänemark, wo wir in Niedersachsen nach einer herausfordernden Etappe durch das Harzgebirge knapp an Hildesheim vorbeigefahren sind. Hildesheim und Hildesheimer Hütte sind jedenfalls zwei ziemlich konträre Welten, die eine im Flachen und die andere im Steilen, die eine eine Großstadt und die andere eine relativ einsame Alpenvereinshütte, die zum Gemeindegebiet Sölden gehört.

Die wunderschön gelegene Hildesheimer Hütte lässt den krankgemachten Gletscher und die Verwundungen rund um das Stubaier Gletscherskigebiet vergessen. Wir sind nun dort, wo keine Lifttrasse mehr in die Gebirgslandschaft geschlagen wurde, wo nur mehr das von Natur Geformte die äußere Welt bestimmt und meine innere Welt wieder etwas ins Gleichgewicht kommt, was bei den schmalen Pfaden doch nicht unwichtig ist. Etwas unterhalb der Hütte liegt ein großer Gletschersee, auf dem Eisschollen schwimmen. Eine freundliche Hilfskraft schreibt mit weißer Kreide und schöner Schrift die Speisekarte auf eine Tafel und trägt wie unten im Tal die Menschen Birkenstock-Sandalen. Es ist warm und im Blau des Himmels sind noch wenig Wolken. Eine kleine Erhebung in Hüttennähe lädt zum Staunen der Bergwelt ein, Blicke zu den Bergriesen – ganz mächtig das Zuckerhütl, das von dieser Seite aber mit der Farbe des Zuckers nichts mehr gemein hat.

Hildesheimer Hütte – Siegerlandhütte (2710 m): 5km, 330 Hm Aufstieg, 430 Hm Abstieg

Das hochalpine Farbenspiel begleitet uns nun weiter auf dem Steig zur Siegerlandhütte. Der mit Gletscherausrüstung und Seil beladene Rucksack macht das Gehen weniger leichtfüßig. Die Landschaft ist phänomenal. Zunächst geht es auf gut markiertem Steig hinab Richtung Windachtal und dann hinauf auf ein Joch, das Gamsplatzl, von dem aus sich die Siegerlandhütte bereits sehen lässt. Unterhalb des Steiges strahlt in türkiser Farbe der Triebenkarsee. Für ein Baden darin haben wir aber keine Zeit. Er läge auch zu tief. Die Siegerlandhütte ist umgeben von Dreitausendern im Talschluss des Windachtales. Vor rund einem Jahr war ich mit lieben Menschen hier, als wir die Überschreitung von der Müllerhütte über die Sonnklarspitze wagten. Damals – es war Mitte Juni – hatte die Hütte aber noch geschlossen. Heute wird sie zum Ort einer Mittagspause mit Kaspressknödel. Auf dem Dach dieser Hütte ist inzwischen eine Photovoltaik-Anlage. Die aufgrund des Klimawandels fehlenden Schneemengen im hinteren Ötztal führten zu weniger Wasser, was die ursprüngliche Stromerzeugung durch eine eigene Wasserkraftanlage zunichte machte.

Siegerlandhütte – Hofmannspitze (3113m): 5,34 km; 650 m Aufstieg, 290 m Abstieg

Inzwischen haben sich Wolken zusammengeschoben. Es folgt ein Höhenanstieg auf die Windachscharte und von dort durch eine beeindruckende Bergwelt hinunter zum Großen Timmeler Schwarzsee, dann hinauf durch ein einzigartiges Moorgebiet und zum Schluss etwas steiler hinauf über alte aufgeweichte Schneefelder. Es hat stark zu regnen begonnen. Vom Schwarzwandjoch (3040 m) sind es nur mehr ein paar Meter zur Hofmannspitze. Es tut gut, den doch etwas schweren Rucksack etwas abzulegen und leichtfüßig auf den Gipfel zu gehen. Der Regen hat aufgehört. Östlich hat sich nun das für mich bekannte Panorama über dem Übeltalferner entfaltet, der sich zwischen der nahen und doch so unbesteigbaren Schwarzwandspitze, der Sonnklarspitze – mit der ich eine knifflig-stressige Kletterstelle verbinde, dem Wilden Pfaff und dann unserem morgigen Ziel, dem formschönen Wilden Freiger-Massiv in einem schönen flachen Bogen wie ein Gletscherfluss ins Ridnauntal hinunterzieht.

Hofmannspitze – Becherhaus (3154 m): 3,74km, 190 m Aufstieg, 110 m Abstieg

Vom Gipfel der Hofmannspitze lässt sich unübersehbar das Tagesziel, das Becherhaus, sehen. Es thront stolz auf der Spitze eines pyramidenförmigen Gipfels. Unsere Route führt nun in einem Halbbogen über den Übeltalferner. Stangen weisen den besten Weg. Wir haben zwei Seilschaften gebildet. Teils sinken wir bis zu den Knien im faulen Schnee ein. An manchen Stellen gluckst es unter dem Eis. An anderen Stellen heißt es, durch Schmelzwasser zu waten. Zum Glück bewähren sich meine neuen Bergschuhe als wasserfest. Ich denke an die Klimademonstration, die heute von Letzter Generation und Science for Future gemeinsam mit verschiedenen Street-Bands stattgefunden hat – gerne wäre ich da dabei gewesen. Was die Wissenschaft über Kipppunkte schreibt, was in den Medien genügend oft festgestellt wurde – eine Erwärmung des Klimas, die global bereits jenseits der 2 Grad angekommen ist und im Alpenraum auf eine Erwärmung von 6 Grad plus zusteuert, das wird hier auf der schmelzenden Masse des Übeltalferners so schmerzlich spürbar. Wir passieren die Müllerhütte. Vor einigen Jahren war sie noch vollständig von Eis umgeben. Jetzt liegt der Gletscher ein großes Stück unter ihr. Für uns ist es sicherheitstechnisch von Vorteil, dass wir dann die steile Schneeflanke hinauf zum Grat, der zum Becherhaus führt, in aufgeweichtem Schnee gehen können. Die Steigeisen bleiben im Rucksack. Mit einem Schnaps und einer kleinen Schelte, dass wir zu spät zum Abendessen kommen, begrüßt uns der Hüttenwirt auf dem ausgebuchten Becherhaus.

Becherhaus – Wilder Freiger 3418 m: 1,29 km, 230 m Aufstieg

Die Nacht war verbunden mit einem Lager, in dem es zu warm war und mich das Kopfweh wachhielt. So freute ich mich schon lange auf das Hellwerden und einen wunderschönen Sonnaufgang an einem besonderen Tag. Wir haben eigentlich fast nur Abstieg vor uns und keine Eile, frühstücken gemütlich und starten erst später los. Etliche Seilschaften sind schon aufgebrochen. Heute haben wir aus der Sicht des Bergsteigens Wetterglück. Jedes Mal erlebe ich die Blockkletterei vom Becherhaus hinüber zum Signalkopf wieder anders. Schwierige Stellen sind großteils mit Stahlseil und manchen Eisentritten versichert. Es ist wieder sehr schön, wie wir als Gruppe unterwegs sind, achtsam aufeinander eingehend, sich auch gegenseitig Sicherheit schenkend.

Wilder Freiger – Roter Grat – Freigersee – Nürnbergerhütte (2265 m): 6,47 km, Aufstieg 20m, Abstieg 1140 m

Viele Routen führen auf den Wilden Freiger: vom Becherhaus über Signalkopf, die Normalroute von der Nürnberger Hütte, von der Sulzenauhütte über den Müllergrat oder über die Seescharte. Eine neue Route lerne ich diesmal kennen. Sie führt in leichten Blockklettereien auf den Gipfel Roter Grat und von dort über Blockgestein und aufgeweichte Schneefelder hinunter zum Freigersee. Die Route ist gut markiert und nie wirklich schwer. Am Gipfel des Roter Kogel mit dem neuen Holzgipfelkreuz tun sich wieder neue Perspektiven auf. Schon von weitem strahlt der türkis-grüne Freigersee entgegen, auf dem noch ein paar schneeweiße Eisbrocken schwimmen. Ich bin nicht der einzige, der sich heute vom eiskalten Wasser erfrischen lässt und darin schwimmt. Über eine Traumlandschaft von abgeschliffenem Gestein und zwischendrin wieder moosbedeckten Stellen mit Wollgras geht es hinaus zur Nürnberger Hütte.

Nürnberger Hütte – Stubaital – Abschluss: 5,72 km, Abstieg 870 m

Ein besonderes Lob verdient wohl das Team auf der Nürnberger Hütte. Sie sind freundlich und es gibt sogar ein eigenes vegetarisches Bergsteigeressen. Mit diesem und dunklem Weizenbier gestärkt – vor allem aber mit Dankbarkeit für diese beiden Tage, für Menschen, mit denen es schön ist, gemeinsam unterwegs zu sein, für eine generationenübergreifende Harmonie von 11 Bergverliebten, für eine gute Tourenplanung und kompetente Tourenführung, für den Haller Alpenverein, der dies ermöglicht geht es begleitet vom Duft der Ziegenböcke den Felsensteig hinunter zur Bsuchalm und hinaus zur Stubaier Gletscherstraße. Es war eine Traumrunde mit einem Traumteam.

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