Persönliche Vorbemerkung
Meine Geschichte mit den Viertausendern liegt 45 Jahre und mehr zurück. Gleich nach der Matura ging es über den frisch verschneiten Hörnligrat auf das Matterhorn, im heftigen Gewittersturm über den Biancograt auf die Piz Bernina, dann ein Jahr später mit meinem Freund Finsteraarhorn – wir spurten über den Blockgrat im dritten Schwierigkeitsgrat, Mönch und Dufourspitze und im Winter mit den Ski auf den Mont Blanc. Wir waren verwegen und hatten unendlich scheinende Kräfte. Heute wären vor allem meine mentalen Voraussetzungen aber auch die vom Klimawandel veränderten Bedingungen nicht mehr passend für solche Abenteuer. Viele Jahre später ermöglichen mir der Alpenverein Hall und seine ehrenamtlichen Tourführenden, dass ich wieder einmal nachspüre, was es heißt, in 4000er-Welt zu sein. Die drei umsichtigen Guides des AV haben die Tour gewissenhaft vorbereitet und ich freue mich auf ein Bergerlebnis, das mit Gemeinschaftserfahrung verknüpft ist.
Anreise, Mittwoch 12. Juli 2023
Dass die Anfahrt sehr lange und mein Klimabewusstsein arg strapazieren würde, hatte ich wohl im Vorfeld etwas verdrängt. Zum Glück erfolgt die Fahrt mit dem AV-Bus und vermittelt das Gefühl, nicht individuell unterwegs zu sein. Die drei Pässe Arlberg, Oberalppass und Furkapass verbinde ich mit vergangenen Rennradfahrten, bei denen ich mich wohler fühlte als mit Verbrennungsmotor unter mir. Am Furkapass erlebe ich eine skurril-absurde Situation: Menschen posieren vor ihren Autos – darunter ein Maserati – oder Motorrädern und Fotos werden geschossen von dem Kiosk, zu dem noch, als ich zuletzt hier war, der Rhonegletscher in all seiner Majestät reichte. Jetzt hat er sich weit zurückgezogen. Weiter unten ist ein milchiger See und die Eisgrotte wird als Attraktion für Touristenmassen mit weißen Plastikfolien vor dem vollständigen Verschwinden geschützt. Oben kommen mir die Posierenden wie Wildtierjäger vor, die sich mit Gewehr und Beute ablichten lassen. Die Waffe heute sind Autos und Motorräder und erlegt werden die Gletscher. Unsere Fahrt folgt vom Furkapass der Rhone entlang, zunächst ein breites Tal bis Sierre im französisch-sprechenden Teil des Wallis. Unser Etappenort heißt Zinal. Die Fahrt von Sierre hinauf ins Val d’Anniviers ist beeindruckend. Die Dimensionen haben sich verändert. Angesichts der Schluchten und hohen Berge komme ich mir etwas vor wie Gulliver in Brobdingnag, jenem Land, in dem die ganze Natur viel größer ist. Zinal selbst ist ein kleines Bergsteigerdorf mit ein paar Hotels und vielen Ferienwohnungen und Chalets aus verwitterten Blockhölzern. Plakate machen auf einen großen Berglaufbewerb am Rande von den fünf Viertausendern aufmerksam, die sich rund um Zinal gruppieren. Auf die westliche Seite geht eine Seilbahn.
Aufstieg zur Cabane de Tracuit, Donnerstag 13. Juli 2023
Von Zinal bis zur Hütte sind es rund 1600 Höhenmeter. Noch hält sich die Bergwelt in Wolken. Sie sind wie ein geschlossener Theatervorhang, der mit angenehmer Spannung assoziiert wird, weil man weiß, dass sich beim Öffnen eine besondere Geschichte ergeben wird. Noch aber heißt es darauf warten. Gemütlich geht es bergauf. Am Rande des Steiges kommen wir an den bekannten schwarzbehaarten und muskulösen Eringer Rindern und einem Eselpaar vorbei. Wir haben keine Eile. Der Rucksack mit Seil und Gletscherausrüstung fühlt sich schwer an. Kurz regnet es. Die Hütte ragt wie eine Verlängerung der Felswand auf dem Grat oberhalb des Turtmann-Gletschers hervor. Wir haben dort oben auf 3250 m viel Zeit, um uns in dem architektonischen Meisterwerk mit seinem freundlichen Personal wohlzufühlen. Die verwendeten Materialien– Edelstahl auf der Rückseite, großflächige Panoramafenster und Solarpanele auf der Westseite – lassen die Hütte je nach Tageszeit und Witterung in unterschiedlichen Farben von silbrig, weiß bis schwarz erscheinen. Der Architekt hat sich bemüht, dieses inzwischen 10 Jahre alte Schutzhaus des SAC als Teil der Natur erscheinen zu lassen. Selbst die Krümmung der Hütte folgt der Felskante. Im Aufenthaltsraum mit den hellen Möbeln aus Sperrholz vermitteln die schrägen Glasflächen den Eindruck, als säße man wie ein Adler in einem Adlerhorst. Am späten Nachmittag tut sich dann der Wolkenvorhang langsam auf. Stolz präsentiert sich das Zinalrothorn mit seiner schlanken Felsspitze. Der Blick in den Westen wird dominiert vom formschönen Pyramidengipfel des Dent Blanche mit seinen steilen Gletscherbrüchen. Im Süden sehen wir das morgige Gipfelziel: Das Breithorn mit seinem wunderschönen Grat hinüber zum Weisshorn.
Bishorn, Gipfeltag, Freitag 15. Juli 2023
Wir haben wiederum keine Eile und frühstücken erst um 5.00 Uhr. Wie vorausgesagt ist das Wetter perfekt für einen Gipfeltag. Strahlend blau ist der Himmel. In der klaren Nacht schlich ich mich einmal aus unserem Matratzenlager, um die Tausenden Sterne zu sehen. Wir bilden drei Viererseilschaften. Gewissenhaft wurde am Vortag bereits die Ausrüstung geprüft und das Am-Seil-Gehen besprochen. Von der Hütte bis zu den oberen Hängen des Turtmanngletschers sind es nur wenige Gehminuten. Dieser Gletscher erleidet das Schicksal aller Alpengletscher. Ich erinnere mich an das Ereignis, dem in den Medien viel Beachtung beigemessen worden ist. Hinunter ins Turtmanntal ist vor einigen Jahren die Gletscherzunge vom oberen Teil abgebrochen. Greta Thunberg hat das Kollabieren der Gletscher als deutliches Signal interpretiert, endlich Schritte gegen den Klimawandel zu setzen. Heute gehe ich achtsam über den leicht aufgeweichten Eisstrom, als wäre er ein Lebewesen. Eine Spur führt um die Spalten herum, die sich vor allem dort befinden, wo die Nordwestflanke hinauf zum Bishorn in einem Gletscherbecken unterhalb vom Col Tracuit beginnt. Die Flanke ist nie zu steil, um ein Abrutschen zu befürchten und außerdem könnten die Zacken der Steigeisen bei solchen Schneebedingungen nicht besser halten. Wir steigen kontinuierlich ohne zu hetzen, was nicht von allen Seilschaften gesagt werden kann. Oben am Joch sehen wir dann die Fülle an Viertausender im Süden mit ihren klingend-bekannten Namen. Vom Joch sind es nur mehr einige unschwere Höhenmeter bis zum runden Firnkopf des Bishorns. Die Höhe auf über 4000 Meter merke ich gar nicht. Durch die Hüttenübernachtung waren wir gut akklimatisiert und ausgeruht. Es bleibt Energie und Zeit für ein Staunen über die großartige Bergwelt. Besonders imposant ist der scharfe und lange Fels-Eis-Grat hinüber zum Weisshorn. Auch beim Abstieg haben wir keine Eile. Erst unterhalb der Flanke im Gletscherbecken wird dann der Schnee weich – so weich, dass eine der Schneebrücken unter mir einbricht. Mit den Armen kann ich mich am Schneerand halten. Die Füße sind im Bodenlosen. Aber das Seil hält und mit Seilzug geht es wieder hinaus. Im Zickzack zwischen imposanten Gletscherspalten geht es zurück zur Hütte.
Retourweg, Samstag, 16. Juli 2023
Bereits um 5.00 Uhr sitze ich auf dem kleinen Hügel oberhalb der Hütte Cabane de Tracuit. Fast alle Hüttengäste haben Seilschaften gebildet und sind dabei, sich für den Aufstieg auf das Bishorn bereit zu machen. Wir haben heute nur mehr den Abstieg ins Tal vor. Das Farbenspiel des Sonnenaufgangs beginnt. Bald leuchten golden die beeindruckenden Spitzen von Weisshorn, Zinalrothorn, Dent Blanche und Mont Blanc. Noch eine andere Frau wartet mit mir auf den Sonnenaufgang. Sie komme aus Brig und sei oft hier, sagt sie. Noch nie aber, so meint sie mit Wehmut in ihrer Stimme, sei es so warm gewesen und die Gletscher würden rapide kleiner. Wir sind auf über 3200 Meter und es ist so warm, dass man mit den Hüttencrocs und nur mit leichtem Shirt draußen stehen kann. Wir blicken auf die hier noch mächtigen Gletscher, die es aber wohl in dieser Majestät nicht mehr lange geben wird. Dennoch ist wichtig: Die Freude am Leben – und es ist auch die Freude an Gemeinschaft, am gemeinsamen Erleben, an Solidarität und Aufeinanderschauen, an Natur und dem Vielen, was uns geschenkt wird – zu nähren wie der Schnee die Gletscher im Winter genährt hat. Im Schmelzwasser eines Gletscherbaches machen wir jedenfalls noch ein lustbetontes Ganzkörperbad, bevor eine lange Heimreise beginnt.
klaus.heidegger