Auf der Fahrt zu den Viertausendern im Wallis begegnete mir vor einer Woche – Mitte Juli 2023 – der Rhonegletscher nur en passant. Dennoch möchte ich zunächst aus seiner Perspektive die Achtsamkeit auf den Zustand der Alpengletscher lenken. Als Bergsteiger erlebe ich die Gletscher als die sichtbarsten Zeugen des Klimawandels. Sie sind wie das Fieberthermometer des Planeten. Im Sommer 2022 – es war der heißeste Sommer seit Aufzeichnung der Temperaturen – schmolz die Eismasse des Rhonegletschers um sechs Prozent. Der graubraune See, in dem sich oberhalb der abgeschliffenen Felsen, die steil am Rand der Furkastraße hinunterreichen, Schmelzwasser sammelt, ist groß geworden. Darin schwimmen Reste vom Vlies, mit dem die untere Gletscherzunge abgedeckt wird. Die grau-braun-weißen Stoffplanen sehen aus wie Leichentücher. Weiterhin soll, wie in den Jahrzehnten zuvor, die Eisgrotte für touristische Nutzung erhalten werden. Wer 9 Euro Eintritt zahlt, kann am Ausgang des Kioskladens durch ein Drehkreuz gehen und über einen Steig hinunter zum Gletscher steigen, in den die Eishöhle gebohrt worden ist. Man kann also dem Sterben des Gletschers zusehen. Man. Man fährt auch mit Autos oder lärmenden Motorrädern auf den Furkapass. Man könnte die schwarz-braun-grauen Ablagerungen auf der Eismasse sehen. Dazu zählen die schmierigen Rußpartikel aus den Verbrennungsmotoren. Die Ablagerungen am Eis werden nochmals mehr das Erwärmen der Gletscher beschleunigen, weil sie das Reflexionsvermögen des Eises vermindern und die Wärme der Sonne absorbieren. Der mächtige Gletscher zieht sich zurück. Noch erstreckt er sich von seiner Zunge auf 2300 m bis auf eine Höhe auf 3600 m hinauf. Allein 2022 soll jedoch die Dicke stellenweise um neun bis zehn Meter abgenommen haben. Am Ende dieses Jahrhunderts wird es den Rhongletscher – und mit ihm alle anderen – nicht mehr geben, wenn die Klimaerwärmung weiterhin so ansteigt. Nur mehr einzelne Schneereste oberhalb von 3500 Metern werden sich halten können. Die Hälfte des Volumens der Gletscher in der Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten bereits verschwunden. Im Kiosk zwischen Murmeltiersalbendosen und Souvenirs aus chinesischen Sweatshops hängen vergilbte Postkarten. Sie zeigen, wie noch vor 30 Jahren mächtige Eismassen bis zum Kiosk reichten. Den See gab es nicht. Und nicht die Planen auf der Gletscherzunge. Der Name des berühmten Hotels „Belvédère“ als bekannter Aussichtspunkt auf den Rhonegletscher wirkt wie ein Sarkasmus. „Schöne Aussicht“? Das Hotel aus der Zeit der Belle Époque ist längst geschlossen. Die „schöne Aussicht“ ist nicht mehr schön. Die Gäste im Hotel könnten heute keinen Gletscher bestaunen und würden noch dazu vom lärmenden Verkehr gestört werden, der sich um das Hotel in einer Haarnadelkurve windet.
Der Rhonegletscher steht für das, was allgemein mit den Gletschern in den Alpen geschieht. Zuletzt war ich am Turtmanngletscher. Er wurde bekannt, weil es dort im Sommer 2020 einen großen Gletscherabbruch gegeben hat. Die Gletscherzunge hat sich vom oberen Teil des Eisstromes komplett abgetrennt und wird nun absterben. So wie in Österreich bei der Pasterze! Vor zwei Wochen gingen wir in den Stubaier Alpen über den Übeltalferner. Zuvor waren wir im Gletscherskigebiet und sahen die weißen Planen, die großflächig über das Eis gelegt worden waren. Die Müllerhütte, die einmal direkt am Gletscher lag, ist nun weit oberhalb. Beim Übergang über den Gletscher wateten wir auf dem Eis zwischen Schmelzwasserbächen.
Die Kipppunkte sind erreicht. Das 1,5 Grad-Ziel, das im Pariser Klimaabkommen festgeschrieben worden ist, ist bereits unrealistisch geworden. Die Wissenschaft stellt heute fest, dass wir mit Blick auf Europa bereits eine Klimaerwärmung von mehr als 2 Grad plus gegenüber der vorindustriellen Zeit haben. Die Schmelze ist menschengemacht. Sie ist daher auch eine Frage von Moral und Ethik. Als Theologe engagiere ich mich für die Scientists for Future, unterstütze Aktionen der Letzten Generation und anderer Klimaschutzinitiativen, versuche – wo immer es mir möglich ist – klimabewusst zu leben und ich gebe zu: es gelingt mir nicht immer.
Wie wird es weitergehen? Ein nüchterner Blick ernüchtert. Viel Zeit, um das vollständige Abschmelzen der Gletscher zu verhindern, gibt es nicht mehr. Das sagt die Wissenschaft. Doch die herrschende Politik laviert populistisch herum und scheut sich vor wirklich notwendigen Klimaschutzmaßnahmen wie der Teufel vor dem Weihwasser. Wie wird es mit der Energiewirtschaft weiter gehen? Die Schweiz bezieht 60 Prozent seiner Energie aus Wasserkraft. Auf der Fahrt ins Wallis habe ich nur am Oberalppass eine Windparkanlage gesehen. Zumindest dort. In Tirol gibt es immer noch keine Windräder. Die Trinkwasserversorgung wird auf Dauer nicht mehr gewährleistet sein. Die Schweiz hat zumindest seit ein paar Wochen ein neues Klimaschutzgesetz. Die Rechten versuchten es zu verhindern. Die Bevölkerung stimmte zu 59 Prozent in einer Volksabstimmung dafür. In der Schweiz soll vor allem der Blick auf die Situation der Gletscher für einen doch positiven Ausgang im Sinne des Klimaschutzgesetzes ausschlaggebend gewesen sein. Vom schönen Firn der Gletscher wird in der Schweizer Nationalhymne gesungen. Mit Blick auf die Gletscher ist der Klimawandel nicht abstrakt. Bis 2050 soll die Schweiz klimaneutral sein. Österreich wartet immer noch auf das versprochene Klimaschutzgesetz. Selbst in den von der Hitze geplagten Städten in der ersten Hitzewelle 2023 wird kein Tempo 30 verordnet und vor meiner Wohnung brettern die Autos mit teils über 50 km/h durch das Wohngebiet. Generelles Tempo 100, wofür sich junge Menschen auf die Straße kleben: die herrschende Politik und die Automobilverbände verhindern es. Es wird von der Spitze der Herrschenden für „normal“ erklärt, dass der Klimawandel und damit die Gletscherschmelze befeuert wird.
Der Blick auf den Zustand der Gletscher könnte auch eine gute Seite haben: Sie zeigt uns, dass wir alle Maßnahmen ergreifen müssen, um die Treibhausgasemissionen zu stoppen. Das betrifft das individuelle Verhalten genauso wie die politischen Regulierungen. Wir brauchen in Österreich daher dringend die Beschlussfassung des Klimaschutzgesetzes, das auch ein Gletscherschutzgesetz ist. Unmoralisch ist das Verhalten der Rechten, die ebendies verhindern. Wir brauchen Tempo 30/80/100 und nicht eine Kriminalisierung der Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation. Es ist nie zu spät, etwas zu tun, weil jeder Bruchteil eines Grades der Klimaerwärmung zählt. Das ist Millionen Menschenleben wert. „…der ewige Firn“, der in der Schweizer Nationalhymne besungen wird, soll nicht verschwinden.