Freitag, 21. Juli 2023: Vent – Rofenhöfe – Hochjoch-Hospiz
Mein Öko-Bewusstsein setzt ein Zeichen. Eine öffentliche Anfahrt von Innsbruck bis Vent ist einfach zu machen und entspricht dem, was der Alpenverein als Naturschutzverein propagiert. In diesem Sommer, im heißesten Juli der Messgeschichte, in dem allerorten die Wälder aufgrund von Dürren brennen, in dem die Auswirkungen des Klimawandels wieder besonders drastisch in vielen Gegenden spürbar sind, braucht es ein möglichst klimaneutrales Verhalten. Das Klimaticket ist für solche Unternehmungen ein zusätzlicher Anreiz. Regionalexpress Innsbruck nach Ötztal Bahnhof. Da bin ich an diesem Freitagvormittag fast alleine im Zug, während sich auf der Inntal-Autobahn schon der Frühmorgenverkehr wälzt. Fünf Minuten Zeit zum Umsteigen in Ötztal-Bahnhof, aber der Bus nach Sölden würde ohnehin den Anschluss abwarten. Wir sind zu zweit im Bus, während sich auf der Ötztaler Landesstraße ein Blechwurm durch die Dörfer und die Talstufen windet. Erst in Sölden füllt sich dann der Bus mit Bergwandernden, der – wieder ein direkter Anschlussbus – nach Vent hineinfährt. Jedenfalls ist es gut, möglichst schnell aus diesem Ort herauszukommen, die Gaislachkogelbahn mit den 007-Werbetafeln – sie passen so zur Art des Action-Tourismus hier! – und die Hotels, die links und rechts für die Massen Spalier stehen, hinter mir zu lassen.
Von Vent bis zu den Rofenhöfen sind es nur etwas mehr als 100 Höhenmeter und rund einen Kilometer Wanderweg. Die entspannende Anfahrt mit den Öffis schenkt mir Zeit, um bis zum Ausgangsort verweilend zu gehen. Noch scheint die Sonne und im Osten blickt die Spitze des Ramolkogels zwischen den Wolken heraus. Auf dem Wanderweg wurden in Abständen mit Steinen angepasste Kunstobjekte geschaffen. Kraftvolle Haflinger weiden auf den Almwiesen. Dort, wo das alte Gipfelkreuz der Wildspitze steht, wird auch deren braun-schwarze Gipfelpyramide sichtbar. Zum Schluss geht es über eine Hängebrücke hoch über der Schlucht zu den Rofenhöfen und den Gasthäusern, die heute das Bild dieses höchstgelegenen Weilers der Alpen prägen. Von den Mauerläufern, die in den Felsflanken der Rofenache heimisch sind, sah ich nichts. Es ist Brutzeit. Die kleine Kapelle zu Heiligen Theresa ist geschlossen.
Wir warten noch das kräftige Gewitter ab. Für den 400-Höhenmeter-Anstieg bis zum Hochjoch-Hospiz (2413 m) haben wir keine Eile. Die Wanderung auf gutem Steig hoch über der Schlucht der Rofenache ist bereits ein eindrucksvolles Naturerlebnis: nach den Rofenhöfen zunächst noch ein kultiviertes Almwiesengelände, dann vorbei an der Materialseilbahn der Vernagthütte, später wird der mächtige Vernagtbach auf einer Holzbrücke überquert. Mit dem Timing hatten wir Wetterglück. Erst kurz vor der Hütte beginnt es wieder zu regnen. Das imposante dreistöckige Gebäude aus Natursteinen und mit den typischen rot-weiß-roten Fensterläden und einem steilen Satteldach thront stolz auf den steilen Flanken südlich der Guslarspitzen. Von der Hütte aus ließen sich eine Fülle an bekannten Dreitausendern in Tagesetappen ersteigen – alles aber Gletscherrouten in höherem Schwierigkeitsgrad. Wir haben Zeit für einen gemütlichen Hüttenabend.
Samstag, 22. Juli 2023: Hochjoch-Hospiz – Brandenburger Haus – Dahmannspitze
Ich bin beschenkt mit ausreichend Schlaf im Lager unter dem Dach, einem guten Frühstück, mit einem Panoramablick rundherum und einer motivierten Gemeinschaft. Lange sitze ich morgens vor dem großen Schutzhaus. Wir haben keine Eile. Bis zum Brandenburger Haus sind es etwas mehr als 1000 Höhenmeter. Regenwolken verziehen sich und geben blauen Himmel frei. Das Wetter passt für unseren Plan heute. Tief unten in der Schlucht rauscht die Rofenache und gegenüber haben andere Bäche Einschnitte in die steilen Flanken gezogen. Die Farben der Bergblumen wirken im Licht der Morgensonne noch einmal stärker. Ein Steig schlängelt sich in Serpentinen hinauf. Jeder Höhenmeter gibt neue Blicke auf die Bergwelt frei. Es geht entlang der steilen Südflanke der Guslarspitzen und der Steig ist noch etwas nass vom gestrigen Gewitterregen. Oben am Kesselwandferner bilden wir drei Seilschaften. Teils ist der Gletscher noch mit dem aufgeweichten Frühjahrsschnee bedeckt, teils kommt darunter das gräulich-graue Gletschereis hervor. Es ist wichtig, hier angeseilt zu gehen, auch wenn alte Spuren die Richtung zum Brandenburger Haus weisen. Unübersehbar thront es von weitem sichtbar wie ein Gletscherschloss über dem Kesselwandferner und dem weiten Gletscherbecken des Gepatschferners. Weiße Wolken umwehen die Dahmannspitze, den Hausberg. Gleich zweimal gehe ich die rund 200 Höhenmeter von der Hütte über Granitsteine und ein kurzes Firnfeld auf den Gipfel. Das breite Gipfelplateau mit der Fülle an Steinmandln bietet einen großartigen Rundumblick: in den Norden zum Glockturm und auch die Kaunertaler Gletscherstraße wird dort etwas sichtbar. Beeindruckend ist vor allem die Eismasse des Gepatschferners mit der Gipfelkuppe der Weißseespitze. Mächtig ragt die Weißkugel im Westen heraus und im Osten, oberhalb vom Kesselwandferner, liegt das morgige Etappenziel und die Krönung unserer Tour: der Fluchtkogel.
Das Brandenburger Haus auf 3277 m ist in vieler Hinsicht besonders. Wer Rekorde und Superlative mag, wird hier fündig. Das noch ursprüngliche Schutzhaus ist das höchste weit und breit. Das hat auch mit seiner Geschichte zu tun, die wenig rühmlich ist. Die nationalsozialistisch gesinnte Sektion Mark Brandenburg, von der Jüdinnen und Juden ausdrücklich ausgeschlossen waren, wollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem kühnen Bauwerk am Scheidepunkt zwischen Gepatsch- und Kesselwandferner ihrem heroischen Eroberergeist einen markanten Ausdruck verleihen. Das ist tatsächlich gelungen. Auf einem soliden Grundstockwerk wurden noch weitere drei Stockwerke aus Stein gemauert. Granitsteine gibt es oberhalb der Hütte ja genug. Die bunten tibetischen Fahnen, die Solaranlage auf dem Dach und eine ökologische Kompostieranlage sind Zeichen des neuen Jahrhunderts. Und auch die Bereitschaft, ein dunkles Kapitel nicht zu verschweigen: Am Eingang der Hütte erinnert eine Tafel an die Geschichte und zieht daraus Lehren für die Jetztzeit: Zwischen dem Edelweiß-Logo des AV und einem Davidstern steht: „Gegen Intoleranz und Hass uns Bergsteigern zur Mahnung … uns ist es eine Stätte der Freundschaft und Begegnung für alle Bergsteiger, unabhängig von Nationalität, Religion oder Hautfarbe …“ Das Hüttenteam mit tschechischem und rumänischem Hintergrund ist sehr freundlich und wirkt, trotz der vollen Hütte, nicht gestresst. Im Eingangsbereich klimpert es nach Steigeisen, Pickel und anderen Eisgeräten. Wer hier heraufkommt, muss über spaltenreiche Gletscher.
Sonntag, 23. Juli 2023: Brandenburger Haus – Fluchtkogel – Vernagthütte – Vent
Ein drittes Mal steige ich um 5.00 morgens zum Sonnenaufgang auf die Dahmannspitze. Tief unten im weiten Becken des Gepatschferners leuchten die Stirnlampen jener, die schon zu nächtlicher Stunde zur Weißkugel aufgebrochen sind. Für uns Frühaufstehende beginnt das Farbenwunder eines Sonnenaufgangs auf 3.400 Meterm bei wolkenlosem Himmel. Der zunächst so kleine goldene Ball geht genau über dem Wildspitzmassiv auf.
Unsere Gletschertour beginnt unterhalb der Felsflanke, auf dem das Brandenburger Haus steht. Hier ist der Kesselwandferner zunächst noch flach. Spuren von gestern sind im alten Schnee. Angeseilt und mit Steigeisen geht es über so manche Spalten hin zu dem steileren Gipfelaufbau. Auf die Kompetenz und Erfahrung der Tourführenden des Haller Alpenvereins kann ich mich wieder voll verlassen. Ein gutes Gefühl! Kurz vor dem Gipfelaufbau ist eine längere Querung und die Steigspuren sind etwas vereist. In solchen Momenten fühle ich mich nicht so sicher. Da wünsche ich mir auch, dass die Steigeisen nicht aus abgestumpftem Aluminium wären, sondern mit scharfen Stahlspitzen. Der Gipfelaufbau selbst ist leicht zu schaffen. 3500 Meter und ein großartiger Rundumblick!
Der Abstieg vom Guslarjoch führt zunächst eine Schneeflanke hinunter. Der Schnee ist aufgeweicht und es lässt sich in der Steilheit gut stapfen. Der Guslarferner hat großteils seine weiße Schutzschicht verloren. Hier heißt es auf Spalten aufpassen. Je weiter wir nach unten kommen, desto mehr Schmelzwasser sammelt sich in unzähligen Bächlein, die in kleinen Spalten wieder verschwinden.
Meine Gedanken und Gefühle vermischen sich mit der Dankbarkeit, diese großartige Bergwelt in einer AV-Gemeinschaft erleben zu können, und der Wahrnehmung dessen, was mit den Gletschern geschieht. In dreißig Jahren, so die neuesten wissenschaftlichen Prognosen, wird es den Guslarferner nicht mehr geben – und auch nicht den Kesselwandferner und vielleicht werden vom noch so beeindruckenden Gepatschferner nur mehr Reste übrig sein. Jährlich, so die wissenschaftlich abgesicherten Ergebnisse, gehen die Gletscher um rund 30 Höhenmeter zurück. Der jetzt vom Schmelzwasser der Gletscher mächtige Vernagtbach, entlang dem wir von der Vernagthütte ins Tal hinunter gehen, wird vielleicht nur mehr ein Rinnsal sein und die Vegetation wird sich verändert haben. Mit Blick auf die Bäche musste ich bei dieser Tour immer wieder an die Pläne der TIWAG denken, die hinteren Gewässer des Ötztales bis zu 80 Prozent ins Kaunertal ableiten zu wollen – ein monströses Bauwerk, das erst dann fertiggestellt sein würde, wenn die Gletscher nochmals um viele hundert Höhenmeter zurückgegangen sein werden. Dem Alpenverein bin ich doppelt dankbar: dass er zum einen gegen zerstörerische Monsterprojekte kompetent Stellung bezieht und zum anderen in seinen Sektionen Menschen zusammenführt, die gemeinsam großartige Bergwelt erleben können.