Das Licht eines neuen Tages verändert die Farbe des Wettersees hinter der Erlanger Hütte. Eine Farbenvielfalt von Ockergelb und Goldgelb und Orange und Hellrot begleitet den Sonnenaufgang beim Breiten Grieskogel und seinen Stubaier Nachbarbergen auf der östlichen Seite des Ötztales. Das Hüttenfrühstück ist ein besonderes Geschenk. Das Ziel am zweiten Tag: Die Überschreitung vom Geigenkamm über den Fastdreitausender Wildgrat und hinunter über Almen zur Mittelstation der Hochzeigerbahnen. Die Gewitterwolken von gestern sind von gestern. Heute wird Sonnenschein sein. Am Wettersee vorbei geht es über alten Gletscherschliff und Geröll bis zum Gipfelaufbau. Der Steig gilt als schwarzer Bergweg – eine Klassifikation, die aber eine große und subjektiv ganz unterschiedlich erlebbare Realität darstellt. Diesmal wird es nicht schwierig. Wir harmonieren beim Gehen und auch sonst, was das Miteinander-Unterwegssein so besonders macht und stets Sicherheit schenkt. Lediglich an einer kurzen, ausgesetzten Passage heißt es, sauber auf Felsen zu gehen und etwas nach Tritten zu suchen. Der Gipfel selbst bietet einen Panoramablick – im Norden die Lechtaler Alpen, im Westen der Kaunergrat und das Venet-Massiv, im Süden schroffe Gipfel des Geigenkamms, im Osten die Stubaier Alpen. Beim Abstieg ins Riegetal sehen wir schon von weitem den Groaßsee und ich freue mich auf die Abkühlung dort. Seele und Körper schätzen die Kühle eines Bergsees umgeben von schroffen Felsgipfeln. In einer langen Querung und in immer üppigeren Alpenvegetation kommen wir schließlich zur Mittelstation der Hochzeigerbahn. Rundherum herrscht touristischer Hochbetrieb. Die zuvor erlebte Ruhe – wir trafen auf der ganzen Strecke nur eine Handvoll Menschen – ist nun der Hektik gewichen. Action-Hungrige können zwischen Biketrails oder den eigenen dreirädigen Zirbencarts wählen. Wir wählen schnell die Benni-Raich-Gondel hinunter nach Hochjerzens. Wenige Wartezeiten – wenn sie gemeinsam erfahren werden – werden zu Entschleunigungszeiten mit Gelegenheit zu Tiefgründigem. Ein erster Bus bringt uns nach Jerzens hinunter. Ein zweiter von Jerzens bis Plangeross – dem vorletzten Weiler im Pitztal. Ein letztes Mal für heute geht es bergauf. Schon vom Parkplatz aus, bei dem liebenswerterweise der Busfahrer einen Extrastopp für uns machte, sehen wir weit oben die Rüsselsheimer Hütte. Der Steig windet sich 725 Höhenmeter in unzähligen Kehren hinauf. Rechts davon rauscht der Kitzlesbach. Noch bleibt etwas Zeit, um vor der Hütte das Panorama wahrzunehmen. Vor allem die gegenüberliegenden schroffen Felsgipfel des Kaunergrats sind beeindruckend. Heute wundere ich mich selbst, dass ich als junger Mensch auf fast allen von ihnen gestanden bin. Der mächtigste Gipfel ist die Watzespitze. Dort, wo ich einst noch mit Steigeisen über eine Gletscherflanke bis knapp zum Gipfelgrat steigen konnte, sind nur mehr Reste von Schneefeldern. Der Normalanstieg soll gar nicht mehr möglich sein. Und wieder beginnt ein Hüttenabend – mit gewohnten Abläufen, die hüttenspezifisch zugleich jeweils anders sind. Statt Wackelpudding, der oft als Nachtisch bei einer AV-Hütten-Halbpension serviert wird, ist heute Apfelstrudel mit Sahne an der Reihe. Stets gibt es auch eine vegetarische Variante zur Hauptspeise. Auch diesmal ist das Hüttenpersonal, die junge Hüttenwirtin mit ihrem Vater und einer Hilfskraft, außerordentlich gastfreundlich. Eine größere buntgemischte und gutgelaunte Gruppe von Bergmenschen aus dem Pitztal schafft mir – auch durch ihren Dialekt – ein Heimatgefühl. Einmal mehr erfahre ich heute, dass Bergsteigen viel mehr ist, als das Erreichen von Gipfelzielen. …