Im jüngsten Interview mit Christian Wehrschütz in der Sonntags-Krone fragt der aktuell prominenteste Kriegsreporter Österreichs: „Wo ist endlich eine wirklich entschlossene politische Lösungsabsicht? Wo ist die Friedensbewegung? Gibt es die noch?“ Knapp drei Dutzend Friedensbewegte von Pax Christi Italien und Pax Christi Österreich signalisierten am ersten Septemberwochenende, dass es den vom ORF-Korrespondenten erhofften Aufstand von Menschen noch geben könnte, die für antimilitaristische und pazifistische Lösungsmodelle von kriegerischen Konflikten eintreten. Angesichts der fortschreitenden Zerstörung der Schöpfung fand die Fahrt vom 1. bis 3. September in drei Etappen vom Brenner über Brixen und Bozen nach Trient realsymbolisch mit Fahrrädern statt. Das gab auch Gelegenheit für intensive Wahrnehmungen von Landschaften und für Gedanken, die im Rhythmus des Herzens und der Emotionen sich drehen konnten.
Der Brenner und der Hl. Valentin
Gestartet wurde zeitlich bewusst am 1. September. Dieses Datum erinnert an den Überfall Hitlers auf Polen im Jahr 1939 und damit an den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Seit vielen Jahren wird der Septemberbeginn nun als Anti-Kriegstag begangen. Zugleich ist der 1. September für die christlichen Kirchen der Weltschöpfungstag. Beide Inhalte bildeten die Grundlage für den Gottesdienst in der Pfarrkirche St. Valentin am Brenner. Der Hl. Valentin ist wie kaum ein anderer in der religiösen Volkskultur Südtirols präsent. Ein großes Wandbild im Nazarenerstil zeigt ihn am rechten Seitenaltar der Kirche als Patron der Reisenden. Für uns Friedensbewegte ist er zugleich einer jener großen Nachfolger in der widerspenstigen Tradition des Jesus von Nazareth. Der Heilige Valentin gehorchte nicht den ungerechten Befehlen des Kaisers. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen …“ ist jenes religiöse Paradigma, das nie seine Gültigkeit verlieren darf und zugleich immer wieder in Konflikt mit Herrschaftsinteressen führt.
Mein Text zu Valentin enthält den Grundakkord, der genau so für die Erinnerung an die nächsten Gestalten unserer Fahrt gilt: Seine Töne sind Widerständigkeit, Gewaltverzicht und Liebe. Die Lyrics dazu schrieb Hannah Arendt: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“
Valentin schützt:
Liebende mit ihrer Liebe und
Verliebte mit ihren Träumen
Valentin ermutigt:
leidenschaftlich vom Glauben zu erzählen und
unerschrocken Zeugnis zu geben
Valentin bekräftigt:
couragiert dem eigenen Gewissen zu folgen und
widerständisch für das Recht einzutreten
Valentin fordert heraus:
sich jedem Krieg zu entziehen und
friedlich der Gewalt zu begegnen
Valentin warnt vor Gefahren:
stärke die Liebenden
Du „Fall-nit-hin“!
schütze die Liebenden
ermutige die Verfolgten
bekräftige die Widerständischen
Sterzing und Alexander Langer
Mit regenbogenbunten flatternden Friedensfahnen geht es schnell den Radweg auf der aufgelassenen Bahnstrecke hinunter. Die Brennerautobahn auf hohen Stützpfeilern beherrscht das obere Eisacktal. Dort tobt sich der Massenverkehr aus. Eine ununterbrochene Kette von Verbrennungsmotoren, die ihre Emissionen in die Atmosphäre loslassen. Das Klima wird aufgeheizt. Die Massen verhalten sich so, als hätte es den Katastrophensommer mit Feuersbrünsten an vielen Orten und unzähligen Unwettern nicht gegeben. Im hinteren Pflerschtal sind nur mehr kümmerliche Reste einst großer Gletscher. Gegen die apokalyptischen Bilder der Jetztzeit wirkt unser Bike4Peace-Projekt ohnmächtig. In der größten Kirche von Sterzing machen wir einen Stopp und denken an Alexander Langer. Sterzing war seine Heimatgemeinde. Der 1947 geborene Friedens- und Umweltaktivist war bis zu seinem frühen selbstgewählten Tod im Jahr 1995 ein unermüdlicher Kämpfer für das Überwinden von Grenzen in den Köpfen und Herzen der Menschen. Wir sind in der Kirche, in der der kleine Alexander wohl viele Male mit besonderem Eifer ministriert hatte. Er verweigerte es für sich, einer der drei Sprachgruppen zugeteilt zu werden. Ein „revolutionäres Christentum“ war ihm ein Anliegen. Dafür gründete er die erste zweisprachige Zeitschrift Südtirols. Als Abgeordneter der Grünen im EU-Parlament engagierte er sich gegen die aufflammenden Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien. Reinhold Messner hat ihn als einen der größten Politiker Südtirols bezeichnet.
Brixen und Nikolaus von Kues
Der Regens des Priesterseminars von Brixen führte uns zurück in die Zeit des Nikolaus von Kues. „Wer im Namen von Religion Krieg führt, hat nicht verstanden, was Religion ist“. Dieses Zitat stellte er an den Beginn seines Vortrags. Nikolaus von Kues, auch Cusanus genannt, war als Universalgelehrter der Renaissancezeit nicht nur Philosoph und Theologe, sondern zugleich Physiker und Mathematiker. In seiner Person und seinem Denken wird sichtbar, dass Glaube und Vernunft, Ethik und Religion nie getrennt sein dürften. Als Humanist sah er schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts, als sich die Trennung von islamischer und christlicher Welt noch mehr verfestigte, dass sich in der Mitte der großen Religionen sich alle in Frieden finden könnten. Als Fürstbischof von Brixen konnte er sich jedoch nicht gegen den Landesfürsten durchsetzen und seine Bemühungen um Reformen hatten nicht jenen Erfolg, den er sich erwartet hatte.
Klausen und Jakob und Katharina Hutter
In Klausen war am zweiten Tag der Friedensfahrt ein nächster Stopp. Oberhalb dieser Stadt liegt die kleine Ortschaft Gufidaun. Georg und Hemma Zingerle leben dort im Schloss Summerberg. Sie erzählten uns von Jakob und Katharina Hutter, die dort gefangen genommen worden sind und zum Tode verurteilt wurden. Jakob Hutter wurde 1536 in Innsbruck dann am Scheiterhaufen verbrannt, seine Frau Katharina später ertränkt. Für die Mächtigen ihrer Zeit stellte die radikale Nachfolge im Geiste des Evangeliums eine Bedrohung dar. Die Hutterer lehnten jede Waffengewalt ab und lebten in kommunitären Gemeinschaften ohne Privatbesitz. Das stand völlig im Widerspruch zur Gewalt- und Besitzlogik der Herrschenden.
Bozen, das ehemalige nationalsozialistische Durchgangslager und der Selige Joseph Mayr-Nusser
Kurz vor Bozen geht der Radweg über eine Brücke über den Eisack. Sie ist nach Alexander Langer benannt. Unterwegs mit den regenbogenbunten Farben blieb unsere Fahrt nicht unbemerkt. Wenngleich in fast ohnmächtiger Kleinheit können wir als Pax-Christi-Menschen mit unserer Fahrradtour doch zeigen: Es gibt sie noch, die friedensbewegten Menschen, die sich in ihrer Sehnsucht nach Frieden gemeinsam und öffentlich auf den Weg machen.
In Bozen war die erste Station am Gedenkort von Joseph Mayr-Nusser im Dom. Kunstvoll ist die Gedenkstätte, gestaltet mit dem Rot der Märtyrer, ein blutrotes Band zieht sich von der stichwortartigen Beschreibung seines Lebens zum Seitenaltar, in dem sich die Urne mit der Asche des Seligen befindet. Blutrot der gläserne Altar und es ist gar kein Stilbruch, dass sich oberhalb dieser Gedenkinstallation ein alter gotischer Flügelaltar befindet. Joseph Mayr-Nusser gilt als Leitfigur des Widerstands gegen die NS-Unrechtsherrschaft. Als Präsident der Katholischen Jugend verfasste er Artikel gegen den Rassenwahn und die Kriegspropaganda und verweigerte dann den Führereid. „Wenn nie jemand den Mut aufbringt, ihnen zu sagen, dass er mit ihren nationalsozialistischen Anschauungen nicht einverstanden ist, dann wird es nicht anders.“ Solche Aussagen charakterisieren die Haltung des Mannes, der 2017 seliggesprochen worden ist und nicht nur für uns in Pax Christi ein großes Vorbild ist. Sein Beispiel ist von bleibender Bedeutung. Er selbst schrieb bereits vor dem Krieg: „Zeugnis geben ist heute unsere einzige, schlagkräftigste Waffe. Seltsam genug. Nicht Schwert, nicht Gewalt, nicht Geld, nicht einmal den Einfluss geistigen Könnens, geistiger Macht, nichts von all dem ist uns als unerlässlich geboten, um die Herrschaft Christi auf Erden aufzurichten. Etwas ganz Bescheidenes und doch viel Wichtigeres hat uns der Herr geboten: Zeugen zu sein.“
Am 2. September 1943 wurden die ersten Bomben der Alliierten auf kritische Infrastruktur in Bozen abgeworfen, das damals noch unter nationalsozialistischer Herrschaft war. An diese Geschichte erinnerte unser Besuch im ehemaligen Durchgangslager. 80 Jahre später ist es eine Gedenkstätte im Süden von Bozen. Wir wurden von einem Historiker in die Schreckenszeit eingeführt, an die die heutige Gedenkstätte erinnert. Meine Gedanken gleiten immer wieder weg vom Faschismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, unter dem die Bevölkerung Südtirols besonders zu leiden hatte, in die Jetztzeit zu dem Phänomen, das mit Giorgia Meloni und ihrer Fratelli d’Italia ins Kapitel „Postfaschismus“ fällt. „Nie wieder Faschismus!“ lautet meine Fürbitte beim Gottesdienst, den wir in gemeinsam mit einer Pfarrgemeinde in Gries feiern.
Kurtatsch und die Katakombenschulen-Lehrerin Angela Nikoletti
Auf unserer Fährte von widerständischen Menschen kommen wir nach Kurtatsch. Die kleine Ortschaft liegt an der Weinstraße im Südtiroler Unterland. Wir zweigen bei Neumarkt vom Etschradweg ab, radeln durch die Apfelplantagen, die hier das Bild des Unterlandes prägen, und sehr steil geht es dann die Angela Nikoletti-Straße hinauf in die Ortschaft. Mit diesem Straßennamen sind wir schon beim Hauptgrund unseres Besuches: Angela Nikoletti. Die Bürgerin aus Kurtatsch steht als Katakombenschulen-Lehrerin für den unerschrockenen Widerstand gegen Faschismus, für zivilen Ungehorsam gegen den Italienisierungsterror nach der Annexion Südtirols, für das Recht auf die deutsche Muttersprache in dem Gebiet, das nach den Friedensverträgen von St. Germain von den Siegermächten dem italienischen Staat zugeschrieben wurde, und für mutiges Aufbegehren gegen die menschenrechtswidrige Assimilierung einer Sprach- und Kulturgruppe in einer Minderheitensituation. „Dona nobis pacem …“, schenke uns Frieden, singen wir in der Pfarr- und Wallfahrtskirche. Das Gnadenbild zeigt Maria mit einer Träne. Es fällt nicht schwer, sie als Träne angesichts von bleibend faschistischen Tendenzen zu deuten. Der ehemalige Bürgermeister und jetzige Obmann des Pfarrgemeinderates von Kurtatsch, Martin Fischer, bringt uns die Gestalt von Angela Nikoletti näher: Ihre Jugend fällt in jene Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als mehr und mehr faschistische Kräfte begannen, den muttersprachlichen Unterricht auf Deutsch zu verdrängen bzw. überhaupt zu verbieten. Darauf bildete sich ein Netzwerk von Menschen, die listig mit den klassischen Methoden des zivilen Ungehorsams Kinder und Jugendliche in „Geheimschulen“ in Deutsch unterrichteten. Frauen besuchten vordergründig einen Nähkurs, während sie in Wirklichkeit für den geheimen Unterricht ausgebildet wurden. Die damals 20-jährige Angela Nikoletti hatte bereits eine pädagogische Ausbildung an der Lehrerbildungsanstalt Zams absolviert. Sie fand ihre Berufung als Pädagogin für die Katakombenschule. Der Name wurde von einem Priester bewusst erfunden, um an das frühe Christentum zu erinnern, als sich die ersten Gemeinden im Geheimen trafen und damit die Befehle des römischen Kaiserreiches brachen. Allerdings gab es nicht nur widerständische Personen, sondern auch Denunzianten. Angela Nikoletti wurde verraten, kam in Haft und die Nachwirkungen der harschen Haftbedingungen führten zu ihrem baldigen Tod. „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen …“ Dieses Leitzitat von Hannah Arendt war wieder in meinem Sinn, als ich dankbar für die Ermutigung am Grab von Angela Nikoletti stand. Ich wünsche mir jedenfalls, etwas von diesem Mut und auch dieser Opferbereitschaft von Nikoletti zu haben. Auf einer bröckelnden Hausmauer in Kurtatsch ist mit roter Farbe ein Tiroler Adler gesprayt. Der ehemalige Schützenhauptmann von Kurtatsch, Jörg Gruber, bringt es auf den Punkt, was die bleibende Lehre aus der Geschichte ist – auch mit Blick auf den gewaltsamen Südtiroler Widerstand gegen ungerechte Gesetze im Zusammenhang mit der Annexion: „Widerstand gegen ein Regime muss nicht immer mit Gewalt verbunden sein.“
Meine Gedanken gehen nun in die Jetztzeit. Morgen werde ich wieder unterstützend für die Letzte Generation auf der Straße sein. Für mich ist klar, dass die Klimakleber:innen des Jahres 2023 auch etwas von diesem Geist des gewaltfreien Widerspruchs leben, der Nikoletti 100 Jahre zuvor auszeichnete.
Ermutigt durch die Begegnung fahren wir hinunter nach Margreid, vorbei am Geburtshaus von Angela Nikoletti. Befreit von Lkws ist an diesem Sonntagnachmittag die Weinstraße. Nur Motorräder zerstören die Ruhe. Salurn – und dann wieder entlang des Radweges nach Trient, jener Stadt, die für eines der bedeutsamsten Konzilien der Christenheit steht. Hitze weit über 30 Grad hat sich auf die Landschaft gelegt. Das Tal mit den hohen Felswänden auf beiden Seiten ist wie ein Windkanal, der die Radfahrenden mit den Friedensfahnen und der Friedenssehnsucht in den Süden bläst.
Klaus.heidegger
Danke, lieber Klaus!
Bernd