schwach!
schwach sein dürfen
nicht stark sein müssen
schwach sein lassen
nicht Held sein müssen
schwach sein können
in Schwäche Stärke spüren
schwach sein annehmen
nicht schwächlich sein
klaus.heidegger, 22.9.2023
(in memoriam Gianni Vattimo, +19.9.2023)
Gedanken zur Philosophie des „schwachen Denkens“ von Gianni Vattimo
Der italienische Philosoph Gianni Vattimo starb 87-jährig am 19. 9. 2023. In meinem philosophischen Suchen, das immer zugleich ein existenzielles Ringen angesichts meines eigenen Hineingeworfenseins in diese Welt mit all ihrem Schönen und Schmerzlichen, mit den Klarheiten und Widersprüchen ist, bin ich manchmal über seine Gedanken gestolpert und je älter ich werde, desto mehr finde ich mich selbst in seiner Denkschule wieder, die als „Philosophie des schwachen Denkens“ bezeichnet wird. Meine Seinserfahrungen in den unterschiedlichen Rollen will ich interpretieren mit der Denkbrille des gerade verstorbenen geschätzten Philosophen und Politikers.
Zunächst blicke ich auf das Sein im Privaten, das zugleich immer politische Dimensionen hat. Im ganz Persönlichen und in Beziehungen zählt die Erfahrung, angenommen zu sein und anzunehmen und zu lieben nicht nur der Stärken wegen, sondern gerade auch in den Schwächen. Keine gelebten Worte sind kräftigender als jene: „Ich mag dich gerade so, wie du bist.“ „Ich unterstütze dich in deinen Schwächen und werde sie nicht zynisch kommentieren, werde dich wertschätzen, gerade damit du lernst, das Schwache anzunehmen und darin über dich hinauszuwachsen.“ In solcher Grunderfahrung braucht in einer Beziehung oder Freundschaft niemand mehr „Held“ oder „Heldin“ sein, werden narzisstische Selbstdarstellungen nicht Raum finden, wird es kein Verstecken oder Vorspielen mehr geben. Der in der Bibel beschriebene paradiesische Urzustand, wo Adam und Eva sich ihrer Nacktheit nicht schämen mussten, kann so erfahrbar werden.
Zweitens blicke ich ins Politische. Gianni Vattimo war als Philosoph zugleich Politiker bzw. als Politiker zugleich Philosoph. Ich weiß nicht mehr, wer es sagte, ein Diktum fällt mir dazu jedenfalls ein: Jeder Politiker sollte zugleich ein Philosoph und jede Politikerin sollte zugleich eine Philosophin sein. Unsere Welt würde anders aussehen, würde sie regiert von Menschen mit der Einstellung des „schwachen Denkens“. Unsere Welt jedoch wird beherrscht von Männern und einigen Frauen, die sich ihrer zur Schau gestellten Stärke rühmen und in narzisstischen Selbstdarstellungen überbieten. Putin, Orban, Salvini, Meloni, Kickl & Co sind solche Prototypen. Je rechtsradikaler und faschistischer politische Systeme sind, desto mehr wird Schwachsein verdrängt.
Drittens schließlich blicke ich ins explizit Religiöse, das sich in den zuvor genannten Dimensionen des Privaten und Politischen ereignet. Die fundamentalistischen Absolutheiten, mit denen Verwalter der Religionsgemeinschaften die religiösen Grunderfahrungen konterkarieren – beispielsweise in der Vergiftung des Eros – werden in einem philosophischen Denken von Martin Heidegger über Hanna Arendt und Karl Jaspers bis zu Gianni Vattimo dekonstruiert und mit dem Konzept der Wahrnehmung des Je-Seienden kritisiert. Hier setzt die „kommunikative Theologie“ an, in die ich mich in der Schule von Matthias Scharer einüben konnte, der wiederum dem Ansatz von Ruth Cohn folgte. Als Religionslehrer sah ich mich stets nicht nur als der Lehrende, sondern zugleich als derjenige, der aus dem religiösen Erfahrungsschatz der Schülerinnen und Schüler lernen konnte, und wenn sie mich fragten, wer Gott sei, fragte ich stets zurück, wo ihnen heute Gott* schon begegnete. Woran ich bei meinen verschiedensten Funktionen in der Kirche am meisten litt, ist der dogmatische Fundamentalismus, der sich religiösen Seinsweisen in den Weg stellt und den göttlichen Reichtum in Fesseln legt. Demgegenüber erfahre ich im Privaten wie im Politischen jene berührbare Gottkraft, die sich ereignet in jenen Lebensvollzügen, die das Wesen des Jüdisch-Christlichen ausmachen: In einem Gott, der als El-Roj der Hagar begegnet, als Gottkraft, die hinsieht auf das Schwache, als JHWH des Moses, die „Ich-bin-die-Seiende“. Der Blick auf das Kreuz macht uns symbolisch jedenfalls immer wieder neu aufmerksam, dass Jesus von Nazareth einen Weg der Erlösung durch die paradoxe Schwachheit am Kreuz zeigte, die letztlich radikale Stärke ist. Die Philosophie des „schwachen Denkens“ von Vattimo ermutigt und bekräftigt die wichtigste Botschaft des Christentums: Die Aufmerksamkeit für die Schwachen bzw. Schwachgemachten um uns und in der Welt in den Systemen, die von einer pervertierten Version des kapitalistischen Prinzips des „survival of the fittest“ vergiftet sind.
Klaus Heidegger, 22.9.2023