… an manchen Tagen, wenn das Erschrecken über die Kriegsgeschehen in der Welt riesengroß ist, das mich selbst aus so sicherer Entfernung von den Gebieten des Blutvergießens erschüttert, an solchen Tagen zieht es mich manchmal hinauf in Bergeshöhen, mein Smartphone auf Flugmodus geschalten, so als könnte ich wegschalten das, was ich heute und gestern wieder in den Medien hörte und sah von den Massakern, von den Bombardements, von den Kriegserklärungen und von flüchtend-verzweifelten Menschenmassen.
Es sind die letzten Herbsttage, an denen die Nordkette noch ohne Schnee ist und nochmals ist unser Ziel der Innsbrucker Klettersteig, beginnend mit der Bergstation Hafelekar, bei schönem Herbstwetter diesmal – noch vor kurzem ging ich den ganzen Steig in dickem Nebel, heute aber sind die Nordwände kalt und schwarz und die Kalkwände der Südseite fühlen sich warm an. Das urbane Leben mit dem Autogetöse liegt 1500 Höhenmeter tiefer und selbst da oben lassen sich die Abertausenden Verbrennungsmotoren hören, angetrieben von den fossilen Rohstoffen, die als wirtschaftlich-finanzielles Schmiermittel auch Öl im Getriebe der Kriegssysteme sind.
Zweigeteilt ist der Innsbrucker Klettersteig. Der einfache und längere Teil ist am Beginn. Vom Langen Sattel nach dem ersten Teil gäbe es dann den Abstieg hinunter. Der zweite Teil ist etwas schwieriger und bietet mehr an Klettereien, ohne aber dass es irgendeine Stelle gäbe, bei der ich mich besonders anstrengen müsste. Klassifiziert ist der Steig mit C/D und führt über sieben Gipfel. Der erste Gipfel, die Seegrubenspitze (2350 m) ist gleich nach dem Einstieg. Vor dem Langen Sattel ist noch der Kemacher (2480 m). Danach folgen die Sattelspitzen mit einem schönen Abschluss einer 25 Meter hohen leicht überhängenden Wand. Es gibt aber mehr als ausreichend Trittbügel. Was ich nicht mag: Die kleinen ausgesetzten Steiglein auf rutschigem Untergrund zwischendrin, wo die Hände keinen Halt haben und nur den Schritten zu trauen ist. Manchmal klettern wir schweigend, vertieft in der Suche nach sicheren Tritten und Griffen, manchmal reden wir über Gott und die Welt und was beides miteinander zu tun hat, manchmal machen wir uns bewusst, dass mehr noch als Felsgriffe oder Stahlseil liebevolle Beziehungen Halt im Leben gibt. Entlang der Abgründe tut es gut, über die tiefen Dinge des Lebens zu reden, fern zu sein von geschwätzigen Verdrängungen des wirklichen Lebens. Das Reizvolle an der Tour sind die Kontraste: Das Siedlungsgebiet Innsbrucks tief unten im Süden und die Tuxer- und Stubaieralpen dahinter, auf der anderen Seite unberührte karge Naturlandschaft mit Kalkbergen, die wie eine Mondlandschaft wirken. Die Zusatztour auf das Vordere Brandjoch lassen wir diesmal aus. Auf dem ausgesetzten Schmidhubersteig – die Warnung, dass Trittsicherheit und Schwindelfreiheit Voraussetzungen sind, ist sehr berechtigt – geht es zurück zur Seegrube bzw. mündet der Steig in den Perspektivenweg. Zitate von einem meiner Lieblingsphilosophen, Ludwig Wittgenstein, sind entlang von einzelnen Stationen eingebaut. Es geht entsprechend der Logik des großen Philosophen stets darum, aus welchem Blickwinkel wir die Dinge betrachten. Da passt auch die Wort-Skulptur „LOVE HATE“ der Performance- und Medienkünstlerin Mia Florentine Weiss genau dazu. Blicke ich von Norden auf diese rost-braune Metallskulptur hoch über dem urbanen Gebiet Innsbrucks, so lautet die Botschaft LOVE, blickt man von hinten darauf, so ergibt der Schriftzug ein HATE. Es ist die Perspektive, die uns ermöglichen würde, Hass in Liebe zu verwandeln oder Liebe – auch als Liebe zu den Feinden – jedem Hass seine Berechtigung zu nehmen.
am 12.10.2023, Klaus Heidegger