Pro-palästinensisch und pro-israelisch zugleich
Ich lebe in scheinbarer Sicherheit in den Zauberfarben des Herbstes, in dem die bunten Blätter von einem warmen Wind durch die Luft gewirbelt werden, in dem die Abgase der Stadt vertrieben werden vom Föhn – nur den Lärm der Motoren kann er nicht schlucken. Ich schreibe an gegen die Gewalt in der Welt, die Kriege, die Militarisierungen, und kann leicht schreiben meine Gedichte, weil ich nicht in einem der Kriegsgebiete lebe, nicht Angst um meine Liebsten haben muss, keinem Einberufungsbefehl folgen müsste, den ich verweigerte mit all den Konsequenzen. Ich schreibe an mit Träumen, dass alle verweigerten die Befehle zum Töten und zerbrächen ihre Gewehre, dass alle Waffen würden umgeschmiedet werden zu Pflugscharen, und wenn ich so träume, dann träume ich in den alten Träumen der großen Propheten jenes Landes, in dem 2500 Jahre später grausame Gewalttaten geschehen und Kriege erklärt und geführt werden und ein Friede so weit entfernt zu sein scheint. „Du bist ein Träumer…“, antwortet mir jemand, die es nicht zynisch meint, die aber doch mir zu verstehen gibt, dass meine pazifistischen Träume nicht zu dieser Welt passen würden.
In Innsbruck findet eine pro-palästinensische Kundgebung gegen die menschenrechtswidrigen Angriffe der israelischen Streitkräfte auf die Zivilbevölkerung in Gaza statt. Ich wünsche mir so sehr, dass es Kundgebungen gäbe, die in keinster Weise mehr einseitig interpretiert werden könnten, wo pro-palästinensisch nicht mehr als anti-israelisch oder gar anti-semitisch missinterpretiert werden könnte, wo nicht nationalistische Parolen für die eine oder gegen die andere Seite gerufen werden und Friedensfahnen statt Staatsflaggen im Wind wehen. Daher schreibe ich auch immer wieder meine Träume: gegen jede Gewalt, gegen jeden Krieg, für einen sofortigen Stopp aller Kriegshandlungen, die Friedensinitiativen ermöglichten und auch das Freilassen aller Geiseln, die Beendigung der Landnahme und der Verweigerung von Menschenrechten für die palästinensische Bevölkerung.
Eine verträumte Wollfadenfahrt in regenbogenbunten Farben
Ich fahre hinaus. Im Slackline-Park am nahen Innufer wird die Lebenslust junger Menschen sichtbar, die Freude am Körper und an Bewegung, an den Balanceakten, die es braucht im Leben. Ein Bild des Friedens. Andere sitzen auf der Mauer am Innufer, dort, wo ich auch so gerne hocke. Die warme Herbstsonne hat die Mauer aufgeheizt und fühlt sich angenehm an auf eigener Haut. Gefühle des Friedens. Meinen Weg hinaus aus der Stadt wähle ich heute bewusst. Das Rad kennt im Gegensatz zum Automobil keine Begrenzungen. Am Brückengeländer über den Inn zwischen die vielen Liebesschlösser knüpfe ich verträumt einen Wollfaden in den Farben der Friedensfahne und spüre der wissenden Erfahrung nach, dass es nur die brückenschaffende Liebe ist, die Frieden und Versöhnung ermöglichen, dass es auch verständnisvolle Liebe ist, die Kraft zum Widerstand gibt. Was zwischenmenschlich geschenkt wird, ließe sich auch im Großen des Weltgeschehens realisieren.
Ein Denkmal gegen Krieg und für gewaltfreien Widerstand
Wir machen einen Halt am Christoph Probst-Platz vor der Fassade der altehrwürdigen Uni. Sektflaschen auf den Stufen erinnern an die akademischen Feiern, die vormittags stattfanden. Eine andere Erinnerung ist mir heute wichtig. Ich knüpfe einen zweiten regenbogenbunten weichen Wollfaden an die Gedenktafel für Christoph Probst. Sie ist am Sockel des „Ehrenmals“ der Universität Innsbruck. Vor dem Hintergrund der gelbgefärbten Laubbäume wirkt der monumentale Bronzeadler auf dem monumentalen dreieckigen Betonsockel nochmals bedrohlicher, doch hat ihm eine kunstsinnige Intervention seine gestrige Gewalt und Ideologie genommen. Wie eine Blutspur rinnt rote Farbe über den burschenschaftlichen Wahlspruch „Ehre – Freiheit – Vaterland“. Die Klauen des Adlers sind entschärft durch die Skulptur einer großen weißen Rose, die an eine andere Geschichte erinnert. Nicht mehr antisemitische und nationalistische Ideologie der Burschenschafter, nicht mehr Heldentum und Rassismus dürfen bestimmend sein. Nie wieder! Nie wieder?, frag ich mich selbst, und weiß zugleich, dass führende Köpfe der Burschenschafter wieder Regierungssitze auf Landesebene einnehmen und hierzulande eine Partei anführen, die laut Umfragen bereits 30 Prozent Zustimmung für sich beanspruchen kann.
Als ich an der Uni meine Promotionsfeier hatte, war dieser Platz noch nicht nach Christoph Probst benannt und die Zwangs-Exmatrikulation des damaligen Innsbrucker Medizinstudenten von der Alma Mater war noch nicht symbolisch aufgehoben. Mit der Enthauptung von Christoph Probst wollte das nationalsozialistische Terrorregime seine Gedanken und seinen Widerstandsgeist für immer ausschalten. Das Gegenteil ist passiert. Sein Geist lebt fort in all den Menschen, die sich heute couragiert und gewaltfrei gegen Kriege, Unterdrückung und Ungerechtigkeiten einsetzen. Er ermutigt mich, an Träumen festzuhalten und mich selbst auch im scheinbar Kleinen nicht anzupassen an die zerstörerischen Kräfte. Ein Pickerl von Extinction-Rebellion klebt sinnstiftend an einem Laternenmasten gegenüber dem einstigen Ehrenmal, das zum Gedenk- und Mahnmal nun wurde. Mehrmals schon war am Christoph-Probst-Platz der Treffpunkt für die Demonstrationen von Fridays-for-Future. Nicht zufällig.
Auf Spuren jüdischer Geschichte
Beim Vorbeifahren auf der anderen Seite der Hauptuni im Gelände der Universitätskliniken, im Schatten der psychiatrischen Stationen, fast unscheinbar und unbemerkt von den Menschen, die meist geschäftig daran vorbeigehen, lege ich drei Steinchen auf ein anderes Mahnmal und hänge einen dritten Friedensfaden daran. In diesen Tagen, in denen jüdisches Leben wieder neu gefährdet wird, braucht es solche Vergegenwärtigungen. Eine Tafel erinnert an die ausgegrenzten und vertriebenen ProfessorInnen, ÄrztInnen und Studierenden der Medizinischen Universitiät Innsbruck. Christoph Probst war einer von ihnen. Auf dem Sockel sind fünf bronzene Bücher, die Tora, die fünf Bücher Mose, die uns heute lehren könnten, welche Schrecken Gewalt über die Menschen bringt, aber auch wie die Spiralen von Gewalt und Gegengewalt überwunden werden könnten. Am Sockel steht in bronzenen Lettern ein Spruch eines Rabbis: „Die ganze Welt ist eine sehr schmale Brücke und Hauptsache ist keine Angst zu haben.“ Gestern trat die Regierungsspitze, flankiert von einem Offizier in Kampfuniform und der heimischen Verteidigungsministerin auf, und meldeten die vierthöchste Terrorwarnstufe in Österreich. Jüdische Einrichtungen in Wien werden von Soldaten des Heeres bewacht.
Ein vierter Wollfaden ist dran. Der Wind weht Blätter auf den jüdischen Friedhof. Auf einem der Äste hängt nun der Faden. Der Friedhof wirkt jedes Jahr noch verwahrloster. Grabsteine stehen schief und es ist, als würden manche gleich umfallen. Achtlos ist eine Leiter abgestellt, so als wäre dieser Teil des Innsbrucker Westfriedhofes ein Abstellgelände. Am Burschenschafterdenkmal der Suevia ist der Schriftzug „Ehre – Freiheit – Vaterland“ mit Farbe überschüttet worden. Eine Intervention des Widerstands. Der Name des SS-Mannes Lausegger, der in der Pogromnacht 1938 einen Juden ermordete, befindet auf diesem Denkmal unweit des jüdischen Friedhofes. Die Ideologie wird auf der Skulptur sichtbar. Diesmal zeigt die Steinskulptur nicht einen Adler, sondern ein junger, muskulöser Mann mit nacktem Oberkörper, die Hände über Degen und Wappenschild gefaltet, thront über dem Gräberfeld des Westfriedhofs. Ein frischer Kranz mit deutschnationaler Schleife liegt davor. Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht.
Im Gedenken an Pater Franz Reinisch
Manchmal, wenn mich meine Radrunde hinein ins Wipptal und die Sillschlucht führt, mache ich noch Halt beim Grab, das an die Geschichte eines anderen Mannes erinnert und nahtlos an das Schicksal von Christoph Probst anknüpft. Der Pallotinerpater Reinisch war der einzige katholische Priester, der den Fahneneid verweigert hat. An der Friedhofsmauer seiner Primizkirche in Innsbruck-Wilten erinnert eine Gedenktafel an ihn und seine dort begrabenen Eltern. Ich hänge einen fünften Faden an den Rosenstrauch.
Naturfühlen
Am Pater-Reinisch-Weg geht es nun hinaus aus der Stadt, vorbei am Bergisel, etwas der Brennerstraße entlang und den Südföhn spüren und den tosenden Lärm der Autobahn wahrnehmen, hinunter in die Sillschlucht, und wieder eine Brücke bewusst begehen, hoch über der Sill, eine Brücke, die trägt, wie die wertvollsten Freundschaften im Leben, die über die größten Abgründe führen. Nochmals denke ich an die Worte des Rabbis auf dem Mahnmal vorhin: „Die ganze Welt ist eine sehr schmale Brücke und Hauptsache ist keine Angst zu haben.“ Und ich weiß: Diese schmalen Brücken im Leben lassen sich dann begehen, wenn es Engel gibt, die begleiten. Nach dem Unterqueren der Autobahn geht es hinauf nach Vill und nach Igls. In Lans am See verweilen, wo sich die herbstbunten Bäume, der Patscherkofel und der tiefblaue Himmel sich spiegeln im schwarz-grün-dunklen Wasser, wo wie in einem Kippbild erfahrbar wird, dass Himmel nicht nur oben ist, sondern auch unten auf Erden, wenn sich Menschen nur liebten und annähmen, so wie sie sind.
Waldwege führen zurück in die Stadt, führen zurück in herrschende Wirklichkeiten. Gerne hätte ich noch den sechsten Wollfaden zum Denkmal für Christoph Probst am Friedhof in Aldrans geknüpft. Ein andermal. Der Waldweg geht direkt vorbei am Tummelplatz, wo Gräber und Ehrendenkmäler schaurige Erinnerungen an die vielen Kriege der letzten Jahrhunderte wecken. Unten tobt die Autobahn. In den Verbrennungsmotoren werden die Dollarmilliarden verbrannt, mit denen die Kriege der Gegenwart finanziert werden. Es schließt sich der Kreis der herbstlichen Radrunde dort, wo junge Menschen und Junggebliebene noch spielen mit Körper und Gefühlen am Inn und darauf sich gegenseitig stärkend hoffen, dass diese Welt eine bessere werden wird mit Frieden und Gerechtigkeit für alle.