Allerheiligentag 2023. In einer der leeren Bänke sitze ich gedankenverloren vor dem Hochaltar des Hl. Vigilius. Es ist schon dunkel geworden. Jetzt im November wird es immer zu früh dunkel, denke ich mir. Umso heller strahlt das Reliquiar unter dem Altar. Eine Hand des berühmtesten Bürgers der Stadt Trient befindet sich darin. Reliquienschreine erzeugen trotz ihres Goldes in mir nie ein angenehmes Gefühl. Es ist mir vielmehr makaber. Zum Gebet werden meine Gedanken angesichts des gotischen Schreines nicht, der mit seinem Gold und seinen Edelsteinen dennoch meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein mächtiger barocker Baldachin ist über dem Altar. Die vier geschwungenen prunkvollen Marmorsäulen erinnern mich an Berninis Baldachin im Petersdom, erinnern mich an eine Kirche, die mächtig und prunkvoll sein will, ein „Haus, das Glorie schaut“, wie es in triumphalistischen Kirchenliedern besungen wird.
Allein hocke ich da in einer der leeren Bänke und versuche mich zurückzudenken in die Geschichte des Heiligen, der zur religiösen Leitgestalt des Trentino wurde. Er soll Ende des 4. Jahrhunderts zum Bischof gewählt worden sein. Gewählt! Vom Volk gewählt – also nicht von einem Papst bestimmt! In diesem Punkt der Kirchenverfassung war meine Kirche jedenfalls schon einmal weit fortschrittlicher. Was im synodalen Prozess in Deutschland gefordert wurde, die Wahl der Bischöfe, war nun bei der Weltsynode in Rom, die gerade zu Ende ging, kein Thema mehr.
Ich pendle zurück zur Vita des Heiligen. Im heutigen Trentino und Südtirol war zu seiner Zeit das Christentum noch nicht überall verbreitet. In den Geschichtsbüchern wurde über Jahrhunderte einfach geschrieben, dass die Bevölkerung von ihrem heidnischen Glauben bekehrt werden sollte. So geht auch die Geschichte. Ich blicke hinüber zur südlichen Nebenapsis. Dort ging ich gerade am Verehrungsort für die drei Märtyrer vorbei, die im Nonstal gewirkt haben sollen. Am Saturnsfest wurden sie dort in der Kirche getötet und verbrannt. Der Hl. Vigilius holte ihre Asche und baute für die Verehrung der drei Märtyrer aus dem Nonstal die erste Kirche, aus der später der Dom von Trient wurde. Vigilius soll selbst das Märtyrertum angestrebt haben, ging auch ins Nonstal, zerstörte eine Statue des Saturn und wurde darauf von Anhängern des Saturnkultes erschlagen. Als Wurfgerät dienten ihnen auch Holzschuhe.
Saturn, ein römischer Gott, der laut Mythologie seine eigenen Kinder fraß, verdient wohl keine Verehrung. Wie auch immer: Die Geschichte ist geprägt von Gewalttaten, die – und das ist erschreckend – oft auch religiöse Begründungen und Rechtfertigungen erhielten. Vielleicht hatten die Menschen in den Tälern des Trentino auch naturverbundene Glaubensinhalte, die sich synkretistisch mit dem Glauben an die gewaltfreie Botschaft des Evangeliums vereinen hätten können. Ich spüre meine Tränen in den Augen und die Wut und den Schmerz, wenn ich an die Menschen denke, die heute unter Gewalttaten leiden, die Menschen und Gruppen aus einem verblendeten religiösen Fanatismus begehen und den Namen Gottes missbrauchen. Die abscheulichen Verbrechen der Hamas, die in diesen Tagen im Zentrum der weltpolitischen Aufmerksamkeit sind. Meine Gedanken werden nun zum Gebet. Hört auf mit der Gewalt!!! Niemand kann sich auf Gott berufen, der Gewalt begeht. Der barmherzige Jahwe-Gott des Jesus von Nazareth ist kein Gottgestalt wie Saturn, der den eigenen Vater kastriert und aus Angst die eigenen Kinder auffrisst. Ist solche Gewalt aber nicht auch heute weltpolitisch bestimmend? Schreckliche Ideologien, in denen Kinder um eines größeren Zieles willen geopfert werden? Welche Gottheiten verehrt heute eine Welt, die mit Ignoranz und Blindheit in eine Klimahölle führt? Vielleicht würde der Hl. Vigil heute nicht Saturnstatuen stürzen, sondern Mitglied von Extinction Rebellion sein und die Götzengestalt des Überkonsums stürzen. Vielleicht würde er mit Mitgliedern der Letzten Generation die Autobahn mit ihrem Massenverkehr blockieren.
Wer wird hier im 16. Jahrhundert während des Konzils von Trient wohl hier gesessen sein, frage ich mich, und stelle mir die rotgekleideten Kardinäle und Bischöfe vor, die in dieser Kirche tagten. Fast vier Jahrzehnte dauerte damals das Konzil. Der Zustand der Kirche und die Folgen der Reformation machten es notwendig. Aus heutiger Sicht war vieles restaurativ. In meinem eigenen Kirchenbild fühle ich mich weder in den reformierten Kirchen noch in meiner eigenen katholischen Kirche wirklich beheimatet. Zu groß sind die Widersprüche, die es auszuhalten gilt.
Vier Wochen dauerte jetzt gerade die Weltsynode in Rom. Rund vierhundert Delegierte hatten sich mehr als 500 Jahre nach der Reformation und dem Konzil von Trient im Vatikan getroffen, saßen in Sesselkreisen, redeten miteinander über Reformen in der katholischen Kirche. Anders als beim Konzil von Trient waren diesmal einige wenige Frauen und Laien dabei. 40 Frauen unter mehr als 300 Männern. Dass überhaupt ein Zehntel der Delegierten Frauen waren und Laien auch mitberaten konnten, wurde als Aufbruch in der katholischen Kirche lobgeredet. Dass Beratungen in Sesselkreisen stattfanden und man wirklich miteinander redete, wurde als Aufbruch gedeutet. Von einem inhaltlichen Aufbruch habe ich jedoch nichts bemerkt. Beschlossen wurde nichts. Beschlüsse wird es erst ein Jahr später bei der endgültigen Bischofssynode geben. Es wurde diesmal beraten und ein rund 70-seitiger Synodentext verfasst, der Grundlage für weitere Beratungen sein soll. In den bekannt strittigen Fragen gab es keine Einigung – nur Relativierungen. Das Thema Frauenpriestertum sollte kein Thema sein. Vorsichtig sprach man von Varianten, wie ein Diakonat für Frauen gedacht werden könnte, ohne von jenem patriarchal-klerikalen Konzept abzurücken, das beim Konzil von Trient festgeschrieben worden ist. Wer sich mehr Gleichberechtigung in der Kirche wünschte – was in den heimischen synodalen Prozessen eindeutig verlangt worden war – wurde vertröstet. Man müsse eben Rücksicht nehmen auf die Kirche in anderen Erdteilen, wo dieses Thema noch nicht zur Diskussion steht, lautet die Rechtfertigung. Ist ein gleichwertiger Zugang zu allen Funktionen in der Kirche aber nicht allgemeingültig? Selbst zum Thema der Positionierung der katholischen Kirche in der Frage der Homosexualität soll es noch zu früh für eine Einigung gewesen sein. Auch hier wurde argumentiert, dass beispielsweise auf afrikanischen Länder Rücksicht genommen werden müsste. Und wieder muss gefragt werden: Warum kann die Kirche sich nicht klar gegen jede homophobe Artikulation stellen?
Zuletzt war ich mit meinem Heimatbischof in diesem Dom und im benachbarten Domkaffee. Als Diözesanbischof könnte er mutig sein, könnte er Pastoralassistentinnen zumindest die Möglichkeit geben zu taufen, ja könnte auch über frauenfeindliche Gesetze hinweg nicht nur Männer zu Diakonen weihen – wobei Weihe im Sinne von Luther ohnehin fragwürdig ist – sondern Frauen gleichberechtigten Status gewähren, könnte er offen dafür stehen, dass zumindest in seiner Diözese homosexuelle Paare auch kirchlichen Segen für ihren Ehebund erhalten.
Langsam gehe ich hinaus aus der Kirche. Die Scheiben der mächtigen Fensterrose oberhalb des Westportals sind nun schwarz. Romanischer und gotischer Baustil gehen ineinander über, verbinden sich harmonisch miteinander und dieses Gefühl von Harmonie will ich mitnehmen. Eigenartig sind die schmalen Stufentreppen, die sich an beiden Längsfassaden zum Turm hinaufziehen. Was nicht zusammenpasst in dieser Basilika, stellt die Widersprüchlichkeit dar, mit der meine Kirche sich bis zum heutigen Tag auseinandersetzen muss.
Jetzt an einem kühlen Novemberabend sind die Touristenmassen verschwunden. Ich blicke nochmals auf die Nordfassade mit den romanischen Mauern. Mein Seele dreht am Glücksrad, der großen Fensterrose am Seitenschiff, und ich bin dankbar, dass es Fortuna im Augenblick gut mit mir meint. Ich blicke auf den Palazzo gegenüber und den mächtigen Turm, der auch die Geschichte von viel Gewalt erzählt: Von den Todesurteilen, die hier bis weit ins 17. Jahrhundert ausgesprochen wurden, die dann am Platz vor dem Dom vollstreckt wurden, von den Folterungen, mit denen Geständnisse erzwungen wurden. Ich denke an die Frauen, die am Domplatz als Hexen verbrannt worden sind – und die Fürsterzbischöfe im Palazzo haben wohl zugeschaut und mitgemacht an solchen Grausamkeiten. Ich denke an die unselige antisemitische Legende des Simon von Trient, mit der Judenpogrome legitimiert worden sind. Und wieder bin ich bei der Gegenwart. Erst gestern gab es in Wien einen antisemitischen Anschlag auf jüdische Grabstätten in Wien.
Mächtig steht Neptun als Brunnenfigur im Zentrum des Platzes. Nochmals denke ich an Saturn, der von Vigilius gestürzt wurde. Neptun, im römischen Götterhimmel der Sohn von Saturn, kann hier stehen, steht wohl auch für die Hoffnung, dass die vom Klimawandel verursachten Unwetter nicht das Land von Wassermassen bedrohen – etwas weiter im Süden in der Toskana geschieht dies gerade. Die Wasserfontänen am Brunnen sind blau illuminiert. In der Hand hält Neptun einen Dreizack. Ich denke an die vielen Dreieinheiten in den Religionen, an Shiva mit seinem Dreizack, in dem die Kräfte von Schöpfung-Bewahrung-Zerstörung sich vereinen, an den Dreizack im ukrainischen Staatswappen, an ein Land, in dem der Krieg seit zweieinhalb Jahren täglich mit noch mehr Waffen genährt wird. Ich denke an die göttliche Dreieinheit, die sich in gelingenden Beziehungen ereignet.
Manchmal ist Göttliches allerdings weniger in den Kirchen zu finden, als in einer Bar. Die Bar in Domnähe ist so klein, dass sie wohl tausendmal in den Dom passen würde. Und dennoch ist sie große genug, dass Gott hineinpasst. In Gegenwärtigkeit wird erfahrbar: Ein wechselseitiges Angenommensein. Aufeinanderhören. Angekommen. Beheimatet.
Klaus Heidegger