Viele Jahre bin ich in meinem Heimatdorf als Nikolaus unterwegs gewesen, auf der Kutsche durch das Dorf ziehend mit Engeln auf dem Wagen, das von einem Pferd gezogen wurde, oder bei den Hausbesuchen. Auch am gestrigen Nikolausabend wurde ich gebeten, als „Nikolaus“ in einem Innsbrucker Stadtteil auszuhelfen. So zog ich mir wieder das klerikale Gewand in XXL-Ausführung an und weiß zugleich, dass der jesuanisch und kommunistisch beseelte Bischof aus der Küstenstadt Myra in Kleinasien wohl nicht anders gekleidet war als die Matrosen und Händler, die das Treiben in den engen Gassen der kleinasiatischen Hafenstadt bestimmten. Hätte er eine weiße Albe als Unterkleid getragen, so wäre die wohl schnell schmutzig geworden vom Staub und Dreck der Stadt, auf die sich der Volksbischof eingelassen hatte. Ich ziehe mir den roten Ornat darüber an und denke an Bischof Kräutler aus Amazonien, wie er ohne die klerikale Ausstattung mitten unter den Indigenen in den vergangenen Jahrzehnten gewirkt hatte. Um den Erwartungen zu entsprechen, hänge ich mir den langen weißen Bart über meinen kurzen und setze eine Perücke mit schneeweißem Haar auf und weiß zugleich, dass der historische Nikolaus so ganz anders gewesen sein dürfte: Kein Mann, auf den das Idiom „Alter Weißer Mann“ und seine diskriminierende Begriffsgeschichte zutreffen würde. Ein weiser Mann sicher, belesen in den großen Gedanken der griechischen Philosophie, die er verknüpfte mit den Inhalten des Evangeliums, begeistert von der revolutionären Botschaft des frühen Christentums, das im Kontrast zu Gewaltherrschaft des römischen Reiches stand, das ganz Kleinasien als sein Territorium ansah. Ich setze mir die Mitra auf und wünsche mich in jene Zeit zurück, als Bischöfe wie Nikolaus vom Volk gewählt worden sind. Ich nehme den Krummstab und bin nun dem Coca-Cola-Weihnachtsmann mit seinen kapitalistischen Implikationen zum Verwechseln ähnlich.
Diesmal nimmt mich eine junge Frau in ihrem Auto mit, um die Orte meiner Besuche im Viertelstundentakt zu erreichen. In kindgemäßer Form erzähle ich dann dort eine der Legenden vom Nikolaus. Den Erwachsenen würde ich manche Legende anders erzählen.
Ich könnte von der sexuellen Gewalt sprechen, die die Töchter des hochverschuldeten Vaters erleiden hätten müssen, wenn sie nicht durch die drei goldenen Kugeln von Bischof Niklaus freigekauft worden wären. Da passt es, dass das Nikolausfest genau in die Tage fällt, in denen die weltweite Aktion „Orange the World“ gegen sexuelle Gewalt stattfindet.
Nikolaus gilt, so die Legenden, auch als Retter der Schiffbrüchigen in jenem Meer, in dem Tag für Tag heute Menschen auf der Flucht ertrinken. Ich müsste also, um dem historischen Nikolaus gerecht zu werden, wohl von den 28.000 Flüchtlingen sprechen, die seit 2014 im Mittelmeer ertrunken sind – auf der Flucht vor Kriegen, Umweltzerstörungen und Verelendung.
Ich würde davon erzählen, dass das Korn nicht weniger wird, wenn wir es nur teilen würden. Das hieße wirtschaftspolitisch: Den Reichtum und auch die Arbeitszeit gerecht verteilen – dann würde es ein gutes Leben für alle geben. Dann würde mit Immobilien nicht mehr spekuliert, sondern sie dienten den Menschen, die dringend einen leistbaren Wohnraum suchen.
Ich würde die Legende vom steinernen Herzen benützen, dass die Empathie nicht verloren geht angesichts von so viel Leid durch Kriege und Zerstörung der Lebensgrundlagen, eine Empathie freilich, die Wege eines neuen Lebens jenseits von Gier und Ausbeutung eröffnet.
Klaus Heidegger