Die „Aktion Tempelreinigung“: Analogien zwischen dem gewaltfreien Handeln Jesu und den Klebeaktionen der Letzten Generation

Historische Plausibilität

Alle vier Evangelisten erzählen von der meist als „Tempelreinigung“ bezeichneten Geschichte aus dem Leben Jesu. (Mk 11,15-19 par) Selbst im apokryphen Thomasevangelium gibt es dazu einen Hinweis. Dieses Faktum einer mehrfachen und identen Überlieferung unterstreicht, dass es sich bei dieser Geschichte um ein Ereignis handelt, das wirklich so stattgefunden haben könnte und zentral ist für das Leben und die Botschaft des Jesus von Nazareth. Das Faktum wird erhärtet, weil es den realen sozio-ökonomischen Gegebenheiten Palästinas im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung entspricht.

Ein zorniger und gewaltbereiter Jesus?

Ob im Rahmen von Podiumsdiskussionen, bei denen ich oftmals die Rolle hatte, pazifistische Positionen zu vertreten, ob in Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern oder auch in der einschlägigen Fachliteratur begegnet mir immer wieder die Behauptung, Jesus hätte doch Gewalt nicht prinzipiell verurteilt, sondern selbst in einer bestimmten Situation Gewalt angewandt. Ich könne mich also mit meinem Pazifismus nicht auf Jesus berufen. Jene, die Jesus zugestehen, einmal zur Gewalt gegriffen zu haben, beziehen sich dabei auf die Geschichte von der sogenannten „Tempelreinigung“. Zugleich wird argumentiert, dass hier die menschliche Natur Jesu deutlich zum Vorschein käme, weil er zornig gewesen sei.

Tempelreinigung als gewaltfreie Aktion

Doch: Weder war das Ereignis der Tempelreinigung gewalttätig, noch handelte Jesus zornig aus einem Affekt heraus. Mahatma Gandhi hat gerade mit Bezug auf diese Stelle Jesus als den „bekanntesten Widerstandskämpfer der Geschichte und als Gewaltfreiheit par excellence“ genannt. In einem Forschungsprojekt am Center for International Affairs an der Harvard University konnte ich ein Jahr lang das Konzept des „Strategic Nonviolent Conflict“ studieren. Die Tempelreinigung scheint wie eine klassische Stelle für diese auch akademisch haltbare und empirisch überprüfte Ansicht, dass die Strategie und Methodik der Gewaltfreiheit unter bestimmten Bedingungen zum Erfolg führen kann.

Exegetischer Feinblick

Ich werde zunächst nur auf jenen Vers eingehen, in dem Jesus gewaltsames Vorgehen unterstellt wird. Es heißt dort: Jesus ging in den Tempel und begann, die Händler und Käufer aus dem Tempel hinauszutreiben; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und ließ nicht zu, dass jemand irgendetwas durch den Tempelbezirk trug. (Mk 11,15) Jesus ging in den Tempel und trieb alle Händler und Käufer aus dem Tempel hinaus; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um … (Mt 21,12) Dann ging er in den Tempel und begann, die Händler hinauszutreiben. (Lk 19,14) Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus, dazu die Schafe und Rinder; das Geld der Wechsler schüttete er aus, und ihre Tische stieß er um. (Joh 2,15) Selbst wenn sich historisch diese Szene so zugetragen hätte – was später noch zu erörtern sein wird, so braucht es doch Phantasie, sich hier Jesus als gewalttätig vorzustellen. Gewalt in einem engeren Sinn bedeutet die direkte physische Anwendung von Gewalt gegenüber einer anderen Person. Von solcher ist in dieser Stelle nicht die Rede.

Symbolisch-prophetische Aktion gegen das Unrecht

Die geschilderte Aktion Jesu muss im Kontext des symbolisch-prophetischen Auftretens interpretiert werden. Sie richtet sich nicht gegen Menschen, sondern gegen ihr ungerechtes Treiben, insofern gegen einen Unrechtszustand. Im gewaltfreien Diskurs ist es wichtig, zwischen der bösen Tat und der Person, die sie begeht, zu unterscheiden. Nicht eine Person ist böse, wenn sie falsch handelt, sondern ihre Tat oder der Unheilszusammenhang, in den sie verstrickt ist und von dem aus sich ihr negatives Tun ableitet. So auch bei Jesus. Die prophetisch-symbolische Aktion richtet sich nicht gegen die Menschen, nicht gegen die Taubenhändler und Geldwechsler, sondern gegen das System, für das vor allem die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Verantwortung tragen – in das alle aber auf unterschiedliche Weise verstrickt sind. Zu den Hauptprinzipien der gewaltfreien Aktion zählt, dass das Unrecht, nicht aber den Gegner zu bekämpfen ist, dass zwischen dem Unrecht und der Person des Täters stets eine Unterscheidung zu machen ist. Markant ist, dass Jesus die Tische und die Stände der Menschen attackiert, sie umwirft, nicht aber die Menschen physisch verletzen will. Jesus geht es um das Aufzeigen der Gewalt, die durch das Tempelsystem ausgeübt wird.

Kritik am System, nicht an den Menschen

Menschen werden ausgebeutet durch den Wucher jener, die mit der Tempelherrschaft kooperieren. Umgeworfene Tische können wohl nicht als Gewalt an Menschen gewertet werden. Sozial-historisch betrachtet können wir davon ausgehen, dass die genannten Krämer und Geldwechsler letztlich gar nicht gemeint waren. Sie waren bloß die Handlanger, die vom Priesteradel abhängig waren. Die „prophetische Zeichenhandlung“ (Martin Buber) bzw. die „kultkritische Symbolhandlung“ richtete sich gegen die Spitze des Tempelsystems, allen voran gegen den Hohen Priester und die Partei der Sadduzäer, die die Letztverantwortung für die schmutzigen Geldgeschäfte an heiliger Stätte hatten. Jene, die eigentlich für Gottesdienst und Reich Gottes zuständig hätten sein sollen, ergaben sich der Profitgier hin. Sie bedienten sich der Religion, um mit Gesetzen und Vorschriften das Volk zu reglementieren und auszubeuten.

Das Tempelsystem als unfruchtbarer Feigenbaum

Die betroffenen Menschengruppen dürften mit der prophetischen Zeichenhandlung Jesu diesen Umstand sofort begriffen haben, weswegen sie so scheinbar widerstandslos das Weite, nämlich den „Vorhof der Heiden“ im Tempel, räumten. Längst schon hatte das Volk gemerkt, dass das Tempelsystem ein Feigenbaum war, der keine Frucht mehr brachte, eine Institution, die ihre eigentliche Intention verraten hatte. Die Tempelreinigung bildet laut Ched Myers den Mittelpunkt der tempelkritischen Botschaft Jesu.

Nochmals sei der Charakter der ganzen Szene als Zeichenhandlung hervorgehoben: Ein Zeichen bleibt aber ein Zeichen und will als solches nicht schon die Fakten schaffen. Zeichenhandlungen waren die beliebten Methoden der biblischen Propheten. Erinnert sei nur an den Propheten Jeremia (Jer 19,1.10f), der mit dem Zerschmettern von Tongeschirr aufmerksam machte, wie es dem Volk Israel ergehen wird, oder der Prophet Jesaja, der provozierend nackt vor seinen Zuhörern auftrat (Jes 20,2-4). Mit Zeichenhandlungen werden noch keine endgültigen Fakten geschaffen und doch wird symbolisch aufgezeigt, worum es geht. Mit der beschriebenen Vertreibung konnte Jesus die Händler und Geldwechsler lediglich für einen kurzen Augenblick entfernen und nur kurzfristig die Lösung vorwegnehmen und doch war der Same der Vision schon in der Aktion angelegt.

Hinaustreiben – historisch-kritisch betrachtet

Wie ist es dann mit dem „Hinaustreiben“, das in den Evangelien genannt wird? Es ist schwer vorstellbar, dass der Mann Jesus mit seiner physischen Kraft Dutzende andere Männer so einfach hätte verscheuchen können. Hätte Jesus tatsächlich physische Gewalt benützt, so hätten die Synoptiker sicherlich irgendeine Erwähnung darüber gemacht, weil dies besonders gewesen wäre. Der Evangelist Johannes tat sich schon schwer mit Vorstellung einer rein gewaltfreien Vertreibung und erfand deswegen als einziger die „Geißel“ als eine Art „Waffe“, die Jesus benützt haben könnte. Selbst die von Johannes erwähnte Geißel kann nicht in einer Weise interpretiert werden, dass Jesus gewalttätig wurde. Eine genaue Übersetzung von Joh 2,15 würde lauten: „Jesus treibt mit einer Geißel alle Schafe und Rinder aus dem Tempel hinaus.“ Kein Wort also, dass die Geißel gegen Menschen eingesetzt wurde. Sie ist das klassische Tiertreibinstrument. Sind einmal die Tiere weggetrieben, so folgen ihnen auch die Tierbesitzer. Es ist daher gar nicht notwendig, um die Gewaltfreiheit Jesu zu verteidigen, wie Karl Herbst zu behaupten, wir sollten die johanneische Vorstellung von der Geißel einfach vergessen und uns an den markinischen Text halten. Die Händler, Geldwechsler und Taubenhändler hätten sich zweifelsohne gewehrt, wenn sie mit Gewalt angegriffen worden wären. Jesus war kein chinesischer Kung-Fu-Kämpfer. Gewalt auf Seiten Jesu hätte sofort zu einer Rauferei geführt und klar wäre gewesen, wer der Unterlegene einer solchen Auseinandersetzung gewesen wäre. Was also ist vorstellbar?

Der griechische Begriff „ekballo“ (hinauswerfen) bekommt eine weniger gewaltsame Konnotation, wenn er in der Bedeutung von „aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden“ gesehen wird. Genauer könnte übersetzt werden: „Jesus wies die Verkäufer und Händler hinaus …“ Das würde verdeutlichen, dass Jesus mit der Kraft der Überzeugung und nicht mit physischer Gewalt vorging.

Nichts durch den Tempel(vorhof) tragen

Eine andere interessante Betrachtung ergibt die Formulierung in den Evangelien, dass Jesus verbot, „irgendetwas“ (skeuos) durch den Tempel zu tragen. Was könnte damit gemeint sein? Ein „Gerät“? Wir könnten uns darunter auch Wasserkrüge und Besen vorstellen, die für die kultischen Reinheitsvorschriften notwendig waren. Wir könnten uns mit skeuos sowohl Haushaltsgerät wie Kriegsgerät vorstellen. Es ist bewusst ein ambivalentes Wort. Ein Messer, das unter dem Gewand getragen wurde, konnte zum Menschenschlachten genauso wie zum Kälberschlachten verwendet werden. Ein Beil konnte zum Schädelspalten wie zum Holzspalten verwendet werden. Tatsächlich – so der jüdische Historiker Flavius Josephus – dürften Aufständische immer wieder das Gedränge im Tempel(vorhof) benützt haben, um Römerfreunde zu erdolchen. Die Antwort der Römer auf gewaltsame Übergriffe jüdischer Widerstandsgruppen war jeweils ein blutiges Gemetzel. Wir haben also wiederum einen so deutlichen gewaltfreien Impuls: Jesus duldete nicht, dass einer seiner Anhänger, die großteils aus Galiläa kamen – also weitgehend mit der zelotischen Bewegung identifiziert werden konnten – mit einer Mordwaffe unter dem Arm durch den Tempel ging, um im Namen Gottes die Feinde zu bekämpfen.

Gegen die Behauptung von der Gewaltanwendung Jesu sprechen etliche praktische Überlegungen, auf die ich in folgenden Punkten noch eingehen werde: Warum haben sich die Tempelherren in ihrer späteren Anklage nicht auf diese Aktion bezogen? Warum haben sich die Händler und Geldwechsler nicht gewehrt?

Kraft der Worte

Jesus setzte auf die Kraft der Überzeugung und die Macht seiner Worte. Tatsächlich ist im Vordergrund der Tempelreinigung letztlich die verbale Aktion. Bei den Synoptikern steht im Zentrum der Hinweis auf die Autorität der Propheten Jesaja und Jeremia. Markus schreibt, dass Jesus mit Verweisen auf die Schrift „belehrte“ und dass „alle Leute von seiner Lehre sehr beeindruckt waren“; Lukas schreibt einfach: „Er sagte zu ihnen…“ und „er lehrte täglich im Tempel“. Die Tempelreinigung bei Lukas ist überhaupt lediglich der Auftakt für ein tägliches Lehren Jesu im Tempel. Bei Johannes fordert Jesus die Taubenhändler einfach auf hinauszugehen und ihre Verkaufssachen mitzunehmen. Es ist anzunehmen, dass die symbolische Aktion Jesu genügte, um die Worte des Jeremia in Erinnerung zu rufen: „Ist denn in euren Augen dieses Haus, über dem mein Name ausgerufen ist, eine Räuberhöhle geworden? Gut, dann betrachte auch ich es so – Spruch des Herrn.“ (Jer 7,11)

Es ist also leichter sich vorzustellen, dass Jesus sich auf die prophetische Tradition des Judentums und die wahre Intention des Tempels berufend mit seiner Autorität und seinen Worten die Profiteure und Kollaborateure des Unrechtssystems hinausjagte. Sie dürften eingesehen haben, dass Jesus auf der Seite des Rechts stand und ihr Tun Unrecht war. Nicht Gewalt hat sie vertrieben, sondern ihr schlechtes Gewissen. Jesus setzte nicht auf Zwang, sondern auf Einsicht. Vielleicht, so könnte die Geschichte fortgesetzt werden, haben sich die Tempelhändler dann sogar der jesuanischen Nachfolgegemeinschaft angeschlossen, so wie der Zöllner Matthäus zum engsten Kreis Jesu zählte.

Es ist bezeichnend richtig, dass diese Geschichte unter dem Titel „Tempelreinigung“ gelesen, beschrieben und diskutiert wird. Diese Überschrift verdeutlicht, um was es Jesus wirklich ging: Um die Reinigung des Tempels vom Götzendienst der Geschäftemacherei und um die Installierung eines wahren Gottesdienstes.

Freilich ist auch der Einwand berechtigt, dass es letztlich nicht nur um eine „Reinigung des Tempels“ geht, sondern um die Zerstörung des Tempels schlechthin, nämlich um die Aufhebung des Tempelkults und des Opferdienstes. Dazu passen die Worte Jesu vom „Niederreißen des Tempels“ (Mk 15,29b-30; Mt 27,40f).

Kreativer Pazifismus

Wer argumentiert, dass Jesus in der Tempelreinigung nicht pazifistisch vorgegangen sei, hat oftmals ein falsches Verständnis von Pazifismus. Pazifismus ist nicht Unterwürfigkeit, sondern im Gegenteil die Bereitschaft, sich in offene Konflikte mit Gewaltstrukturen zu begeben. Pazifistische Menschen sind nicht untertänig, sondern herrschaftskritisch; gehen keine faulen Kompromisse ein, sondern sind um des wahren Friedens willen konfliktbereit. In diesem Sinne ist das Jesuslogion zu verstehen: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ In diesem Sinne kann Jesus die Gegner des Volkes als „Schlangen“ und „Ottergezücht“ bezeichnen (Mt 23,33), weil es ihm um das radikale Aufdecken von deren Gewalt geht.

Genau geplante Aktion

Physische Gewalt geschieht sehr oft im Affekt, ist verbunden mit den Regungen des Zorns, der Vergeltung und des Hasses. Kommentare zur Tempelreinigung und noch mehr die Verfilmungen diese Szene zeichnen an dieser Stelle gerne einen zornentbrannten Jesus, der in Rage mit der Geißel herumschlägt. Eine gewaltfreie Aktion hingegen kann nur gelingen, wenn sie nicht im Affekt geschieht, sondern wohlüberlegt und genau geplant wird. Ich stelle mir Jesus vor, wie er im Kreis seiner Kommilitonen und Kommilitoninnen sitzt und sie gemeinsam jeden Schritt planen. Ich stelle mir Jesus und seine Bewegung vor, wie sie vor dieser Aktion meditieren und beten, um sich so frei zu machen von Zorn und Hass gegen ihre Gegner – in einer Art und Weise, wie dies dann später Mahatma Gandhi mit seinen Shanti Senas einübte.

Lokalaugenschein als erster Schritt

Die Sorgfältigkeit der Planung geschieht bereits im Vorfeld der eigentlichen Aktion. Jesus und die JüngerInnen nehmen laut Markusevanglium einen Lokalaugenschein vor. Im Markusevangelium lesen wir in Kapitel 11,11, dass Jesus beim ersten Besuch im Tempel einfach „herumschaute“ und wieder zurück nach Bethanien ging. Wir können uns nun vorstellen warum: Um seine Aktion mit seiner Widerstandsgruppe gut vorzubereiten.

Der Ort wurde bewusst gewählt: Der Tempel war zur Zeit Jesu die Konzentration der religiös-politisch-ökonomischen Macht. „Alles dreht sich um den Tempel“, schreibt Kuno Füssel in seiner materialistischen Bibelauslegung von Mk 11. Der Tempel ist der Code für die politische, soziale, ökonomische und mythologische reale Wirklichkeit von Israel zur Zeit Jesu und zugleich für die Vision eines neuen Israel. Ein strategischer Vorteil für die Aktion Jesu: Im „Vorhof der Heiden“ war die Tempelwache nicht präsent und konnte so auch nicht einschreiten.

Der Zeitpunkt, das Passahfest, als besonders viele Menschen in Jerusalem waren, wurde bewusst gewählt. Der Tempelmarkt hatte zur Zeit der großen Wallfahrtsfeste, vor allem zum Passahfest, Hochkonjunktur.

Geldwechsler und Taubenhändler

Die von Jesus gewählten Menschengruppen waren bewusst gewählt. Jesus hatte verschiedene Zielgruppen im Auge: Da sind die Geldwechsler als unterste Handlanger der Finanzhaie. Sie waren daher so etwas wie eine „Symbolgruppe“ für die finanzielle Ausbeutung des Volkes. Da sind zweitens die Taubenverkäufer. Es waren primär die Armen, für die für die Reinigung der Frauen, für die Heilung von Lepra und für andere Zwecke im Tempel Taubenopfer vorgeschrieben waren. Jesus erinnert mit der Verjagung der Taubenhändler daran, dass die kultischen Verpflichtungen für die Armen besonders katastrophal waren. Beide Gruppen waren keine Tempelbeamten, hatten aber von der Tempelbürokratie die notwendigen Konzessionen. Sie waren also nicht die Hauptschuldigen, schreibt Füssel, doch ohne sie hätte das System nicht funktionieren können. Mit der Verjagung der Geldwechsler und Taubenverkäufer symbolisiert Jesus somit seine Ablehnung des herrschenden Reinheits- und Schuldensystems, das zur Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten führte. Er verneint die doppelte religiös-politische Ausbeutung breiter Bevölkerungsschichten durch Reinheits- und Schuldvorschriften.

Tempelaristokratie: Hohenpriester und Schriftgelehrte

Die von Jesus in den Fokus seiner Kritik genommene Gruppe waren die Tempelherren, die sich zwar äußerlich durch die Begegnung mit dem Plebs, den Unreinen, den Verarmten nicht die Hände schmutzig machten, die daher die persönlichen Tragödien gar nicht so kannten, die aber doch die Fäden des ganzen Ausbeutungssystems in der Hand hielten. Sie verstanden die Aktion Jesu. Füssel spricht von einem „Denkzettel“. Die Mächtigen hatten den Tötungsbeschluss bereits in ihren Händen, weil sie ihre Macht und ihre Privilegien gefährdet sahen. Der Evangelist Markus nennt ausdrücklich die „Hohenpriester und Schriftgelehrten“, die im Hintergrund die ganze Aktion mitverfolgt hatten und „nach einer Möglichkeit suchten, ihn umzubringen.“ Viertens schließlich sind alle Menschen gemeint, die mit dem Handel im Tempel beschäftigt waren, also auch die Käufer. Das wird deutlich mit Jesu Verbot, irgendetwas durch den Tempel zu tragen. Damit wird symbolisiert, dass das ganze herrschende Tempelsystem zu einem Stillstand gebracht werden soll.

Zeloten und Sikarier: Kritik an gewaltsamem Widerstand

Fünftens zielte Jesu mit seiner Aktion auch an die Adresse der Zeloten bzw. Sikarier. Sie hatten zumindest drei andere Zugänge zur Befreiung, die Jesus mit seiner Aktion konterkariert. Die Zeloten setzten auf gewaltsame Aktionsformen, Jesus setzt auf gewaltfreie Intervention. Deren Aktionen waren primär gegen die römischen Besatzungssoldaten gerichtet; Jesu Tempelaktion richtete sich vorrangig gegen die jüdische Lokalaristokratie, die freilich mit den römischen Besatzungstruppen zusammenarbeiteten. Die Zeloten hatten als Vision einen jüdisch-nationalistischen theokratischen Staat. Jesus hat bewusst auch in der Szene der Tempelreinigung die Heiden in seine Vision eines neuen Israel hineingenommen.

Ablauf einer symbolisch-gewaltfreien Aktion

Die zentralen Aktionsformen wurden bewusst gewählt. Mit dem Hinaustreiben der Händler sollte klar werden, dass in dieser Frage kein Kompromiss mehr möglich ist, kein Verhandeln, kein Entweder-Oder. Besonders aber sollte auch der prophetische Bezug hergestellt werden, so beispielsweise zur Stelle im Buch Hosea 9,15: „Ich werde sie aus meinem Haus treiben.“

Der Ablauf von Jesu Aktion folgt einer genauen logischen Reihenfolge – hier laut MkEv: 1. Hinaustreiben jener, die kaufen und verkaufen, 2. Umhauen der Tische der Geldwechsler und der Stände der Taubenverkäufer, 3. Verhinderung, dass irgendjemand etwas durch den Tempelbezirk trug, 4. Lehre Jesu.

Die Botschaft Jesu sollte auf den Punkt gebracht werden. Tat und Wort, Handlung und Erklärung bilden eine Einheit. Wenn das Geld, das sind die römischen Münzen mit dem Bildnis des Kaisers sowie auch das scheinbar koschere jüdische Geld, am Pflaster des Tempelhofs klirrt, dann sollte die Bedeutung des Geldes sichtbar werden. Jesus strebte nach einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist. Jesus verkündete einen Gott, dem nicht mehr geopfert werden soll, womit auch der Verkauf der Opfertiere am Tempel hinfällig werden würde. Im Matthäus-Evangelium kommen unmittelbar nach der Tempelreinigung die Blinden und Lahmen in den Tempel und werden von Jesus geheilt. So macht das Hinaustreiben der Händler Platz für das Wesentliche.

Die Reaktion der Menschen wurde genau kalkuliert. Im Vorhinein war klar, dass die Legitimation der kühnen Aktion Jesu durch die Wahl des Ortes, des Zeitpunktes, der Menschengruppen und der Handlungsformen für alle Beteiligten offensichtlich war. Im Vorhinein war klar, dass die Händler keinen Widerstand leisten würden. Im Vorhinein war aber auch klar, was die Herrschenden laut Evangelienberichten dann auch tatsächlich taten: Jesus endgültig zu verurteilen. Es heißt, dass sie seine Worte „hörten“ (Mk 11,18) und nach einem Weg suchten, ihn zu töten. Das war nicht so einfach, da sie die Reaktion der Volksmasse fürchteten. Ein gewaltfreier Akteur ist bereit, die Konsequenzen seines Tuns zu tragen, selbst wenn dies Verfolgung und Tod bedeuten würden. Dennoch möchte ich behaupten, dass Jesus nicht seinen Tod suchte, wie auch die ganze Anlegung der Tempelreinigungs-Aktion beweist.

Jesus und die critical mass

In der historisch-kritisch orientierten exegetischen Literatur wird immer wieder die Frage gestellt, warum die Tempelwache nicht eingeschritten sei und Jesus nicht bereits on the spot bzw. auf frischer Tat verhaftet habe. Auch in der nahen Burg Antonia wären genügend römische Besatzungssoldaten zur Verfügung gestanden, die mit Oppositionellen nicht zimperlich umgingen. Die Antwort ist klar und zeigt das berechnende Vorgehen Jesu: Jesus dürfte mit seinen Leuten und dem Volk, gemeint die unteren Klassen, in der Überzahl gewesen sein. Im gewaltfreien Jargon spricht man vom Aufbau einer breiten Sympathisanten-Basis bzw. von Critical Mass. Es heißt bei Markus ausdrücklich, dass sich die Tempelaristokratie vor der Volksmasse fürchtete, weil sie von Jesus beeindruckt war. Das erinnert zugleich an den triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Jesus konnte die Aktion Tempelreinigung bei helllichtem Tag durchführen, während er es in der Nacht vorzog, außerhalb Jerusalems sein Lager aufzuschlagen, weil er nächtens nicht mehr den Schutz des Volkes um sich hatte. Klar kann auch in Fortführung der gewaltfreien Argumentation festgestellt werden, dass Jesus das Einschreiten der militärischen Kräfte auch deswegen nicht provozierte, weil er keine Gewalt angewendet hatte. Wäre er geißelschwingend und tobend im Tempel herumgesaust, so hätte ihn die Tempelwache sofort aus Angst vor einem größeren Aufruhr verhaftet.

Jesu Aktion war somit keine gewaltfreie Kamikaze-Aktion, in der er sich mit der Schrift in der Hand und mit entblößter Brust wie ein Selbstmordattentäter den Gegnern entgegenwirft, um dann als Märtyrer Verehrung zu finden.

Das unmittelbare Ziel der Aktion sollte nicht eine handfeste Rauferei sein, sondern die Einladung zum Gespräch und zum Dialog. Für die Zuhörerinnen und Zuhörer war der Bezug Jesu zu den Propheten Jesaja und Jeremia klar. Jesus knüpft bewusst bei den zentralen Autoritäten an. „Heißt es nicht …“ So beginnt seine mündliche Erklärung von dem, was er soeben getan hat. Und wiederum hat er bewusst eine der zentralsten Stellen aus dem Jesajabuch gewählt, der Eröffnung des Tritojesaja. Mit „Verheißung an die Fremden und Kinderlosen“ wird heute dieses Eröffnungskapitel überschrieben, in der es darum geht, wie dieses neue Israel aussehen sollte. Ein inklusives Israel für alle Völker, das offen ist für die Fremden. Jesus wählt die radikalen prophetischen Worte, die keinen Kompromiss dulden. Wenn der Tempel zum System der Ausbeutung wird, wenn er einer „Räuberhöhle“ gleicht, dann bleibt nur seine Zerstörung (Mk 13,1ff) übrig.

So blieb bei der Tempelreinigung nichts dem Zufall überlassen. Es war keine Sponti-Aktion. Es war kein Jesus, dem die Nerven ausgingen. Es war hingegen ein „sorgsam geplantes messianisches Theater“. Jesus war nicht überrascht über das Treiben im Tempel, wie manche Kommentatoren dargestellt hatten. Im Gegenteil.

Das Resultat dieser Aktion war nicht eine Rauferei. Es gab kein Blutvergießen. Selbst die mächtigen Tempelwachen konnten nicht einschreiten, sondern wurden ausgetrickst. Kein Händler oder Geldwechsler hatte ein blaues Auge. Der hitzköpfige Petrus musste keinen Gedanken daran verschwenden, sein Schwert zu zücken wie wenig später bei der Verhaftung Jesu.

Mit der gesamten Konzeption der Tempelreinigung wird der gewaltfreie Charakter mehr als deutlich. Er erinnert an die vielen gewaltfreien Aktionen – sei es der bekannte Salzmarsch Gandhis zur Befreiung Indiens, die Walk-Ins der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King oder die Landbesetzungen der Landlosen in Brasilien. Sie erinnert mich an die Methode des „Versteckten Theaters“, wie sie vor allem von Augusto Boal theoretisch entwickelt wurde.

Kontextuelle Hermeneutik

Die gesamte Perikope der Tempelaustreibung steht bei den Synoptikern in Verbindung mit zwei nicht weniger dramatischen Szenen: Dem Einzug Jesu in Jerusalem und der Verfluchung des Feigenbaums. Einzug, Verfluchung des Feigenbaums und Tempelreinigung bilden eine Komposition mit gleichen symbolisch-prophetischen Elementen. Markus verwendet die Sandwich-Technik: Feigenbaum – Tempel – Feigenbaum – Tempel. In diesem Kontext – dem verdorrten Feigenbaum als symbolische Gleichnisgeschichte – muss die Tempelreinigung gesehen werden.

Die Interpretation der Stelle von der Tempelaustreibung führt in logischer Folge zur Einzugsperikope vom Palmsonntag. Gerade dort aber wird der gewaltfreie Charakter der messianischen Befreiung auf den Punkt gebracht. Jesus reitet auf einer Eselin, dem Symbol der Gewaltfreiheit, und nicht auf einem Pferd, dem Symbol der Gewalt, in Jerusalem ein.

Übereinstimmung mit Gesamtbild

Jede Interpretation einer Bibelstelle braucht die Überprüfung der Übereinstimmung mit dem Gesamtbild Jesu. Der Gewaltverzicht Jesu ist in allen vier Evangelien wohl unbestritten. Die Evangelisten haben sich unisono bemüht, ein gewaltfreies Bild von Jesus Christus zu zeichnen. Das Handeln Jesu entspricht so ganz seiner Lehre von der Feindesliebe und von der Kraft der Versöhnung. Es wurzelt in einer Verbundenheit mit einer zärtlichen-barmherzigen Gottkraft, die immer zur Verzeihung bereit ist und ihre Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse. Aus diesem Gesamtbild heraus muss auch die Szene von der Tempelreinigung gelesen werden.

Ziviler Ungehorsam

Die Aktion Jesu könnte auch in der gewaltfreien Theorie als klassisches Beispiel eines „zivilen Ungehorsams“ bezeichnet werden. Das bedeutet, dass eine klar begrenzte, das Unrecht betreffende Regelverletzung geschieht. Jesus hat das herrschende Gesetz an einem Punkt übertreten. Die Händler und Geldwechsler handelten mit legalen Befugnissen. Jesus konnte sich jedoch auf ein höheres Gesetz berufen, wie mit seinen Verweisen auf die Propheten sichtbar wird. Günter Bornkamm weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass alle Evangelien mit der Geschichte der Tempelreinigung das Kampfgespräch Jesu mit den Oberen des Volkes über die „Vollmacht“, die ihn zu solcher Tat berechtigt, verknüpfen.

Historisch wahrscheinlich

Aus dem Blickwinkel der historisch-kritischen Exegese lässt sich relativ eindeutig feststellen, dass sich die Geschichte von der Tempelreinigung tatsächlich zugetragen haben dürfte. Dafür sprechen folgende Indizien: Die fast übereinstimmende Überlieferung in allen Evangelien; die Entsprechung mit dem Logion aus dem Thomasevangelium: „Ich werde (dies) Haus (zerstören), und niemand wird es (wieder) aufbauen können.“ (Thomasevangelium 71). Das auch in den Evangelien berichtete Logion von der Zerstörung des Tempels durch Jesus gilt als authentisches Jesuswort und passt zur Symbolhandlung der Tempelreinigung; der Tempel bzw. das Tempelsystem als zentraler Ansatzpunkt der Kritik Jesu sowie die Handlung der Tempelreinigung als Verdeutlichung der Botschaft Jesu von der egalitären Tischgemeinschaft.

Paradigmatische Gleichniserzählung

Heute können wir die Tempelreinigung vor allem auch als paradigmatische Gleichniserzählung begreifen. So entrückt der Evangelist Johannes bereits diese Geschichte aus dem Zusammenhang mit der Passionsgeschichte und stellt sie an den Anfang seines Evangeliums. Diese Sichtweise kann helfen, von einer Fixierung auf das Konkret-Historische wegzukommen und unser eigenes Leben in den Blick zu nehmen. Mit Tempel ist dann nicht mehr der herodianische Tempel des 1. Jahrhunderts gemeint, sondern der Tempel kann auch unser Inneres darstellen. Es gilt die Krämer und Geldwechsler in unserem eigenen Inneren auszutreiben, eine Geißel zu nehmen, und die Profitgier, den Geiz aus unserem Herzen zu verbannen. Der Tempel kann auch das kapitalistische System im Neoliberalismus sein und die Händler und Krämer sind heute die Handlanger der multinationalen Konzerne, die im Namen von Freiheit und Frieden agieren und doch Millionen Menschen in Elend und Verarmung halten. Freilich muss es ein Hinaustreiben sein, das mit jener sorgfältigen Gewaltfreiheit geschieht, die in der Szene von der Tempelreinigung so schön sichtbar wird.

Schlussfolgerung

Die Tempelreinigung ist nicht im Widerspruch zum gewaltfreien und pazifistischen Charakter des Lebens und der Lehre des historischen Jesus von Nazaret, sondern deren Zuspitzung und Konkretisierung. Die prophetisch-symbolische, durch und durch geplante und provokative Aktion Jesu deckt Gewaltstrukturen auf und macht so die Gewaltverhältnisse sichtbar. Daher taugt diese Handlung Jesu überhaupt nicht zur Rechtfertigung von widerständischer Gewalt. Jesus hat durch diese Handlung keinen Menschen verletzt oder entwürdigt, wie dies durch Gewaltanwendung geschieht. Die Tempelreinigung, wie sie in allen vier Evangelien beschrieben wird, ist der Protest eines Mannes und seiner Widerstandsgruppe, der zutiefst an eine gewaltfreie Revolution glaubte.

Letzte Generation und Tempelreinigung: Analogie einer Widerstandsform im Heute

Wenn ich heute die Aktionsformen der Letzten Generation oder von Extinction Rebellion mit der jesuanischen Tempelreinigung vergleiche, entdecke ich die gleichen politischen Grundstrukturen.

  1. Jesus beruft sich auf ein höheres Recht, das über dem legalen Geschäftstreiben im Tempelvorhof stand. Es geht um eine größere Sache. Die Letzte Generation kämpft, wie schon ihr Name sagt, um nichts weniger als das Überleben auf diesem Planeten. Noch wäre es – daher der Name „letzte Generation“ – möglich, das Erreichen der Kipppunkte zu verhindern.
  2. Die Wahl der Widerstandsorte ist daher entscheidend. Treibhausgasemissionen ließen sich vor allem im Verkehrsbereich am wirksamsten reduzieren. Die Straße ist daher der Ort des Widerstands.
  3. Die Formen des Widerstands sind symbolisch. Man unterbindet für eine klar begrenzte Zeit den Verkehrsfluss, um sichtbar zu machen, wo und wie Änderungen sein müssten. So stoppte auch Jesus in der Tempelaktion für kurze Zeit das ausbeuterische Treiben.
  4. Die Mitglieder der Letzten Generation sind auch bereit, für ihren Widerstand persönliche Nachteile wie Geldstrafen in Kauf zu nehmen.
  5. Vor allem aber sind die Aktionen – wie Klebeaktionen – stets absolut gewaltfrei. Das wird in den Trainings eingeübt. Jede Aktion wird bis ins Detail geplant, so dass beispielsweise Einsatzfahrzeuge oder auch öffentliche Verkehrsmittel nicht behindert werden.

 Klaus Heidegger, 5. März 2024, www.klaus-heidegger.at

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